1. August 2020

„Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2011 bis 2020 zur UN-Dekade für die biologische Vielfalt erklärt. Die Staatengemeinschaft ruft damit die Weltöffentlichkeit auf, sich für biologische Vielfalt einzusetzen. Hintergrund ist ein kontinuierlicher Rückgang an Biodiversität in fast allen Ländern der Erde. Die Dekade soll die Bedeutung der Biodiversität für unser Leben bewußt machen und zum Handeln anregen.“

Björk Dewert und Karl-Robert Wolf sind die Initiatoren und Verantwortlichen  des Vereins „Natur unterwegs“, der in Seeste seine Basis hat und der mit Urkunde vom 9. Juli von den Vereinten Nationen ausgezeichnet wurde. Herzlichen Glückwunsch nach Seeste. Ich durfte dazu ein paar Worte sagen und die Urkunde überreichen. Das war mir eine große Freude und Ehre. In der Vorbereitung auf diesen freudigen Anlaß konnte ich lernen, dass der Verein mit seinem Zweig „ins Freie“ genau das, was die UN hier beschreiben, als Ansatz und Programm verfolgt: Die Vielfalt des Lebens zu entdecken und die Artenvielfalt auf der Erde zu erhalten. Und zum Handeln anzuregen. Bevor Menschen aber bewußt handeln können, müssen sie das Bewußtsein dafür entwickeln, dass das möglich und nötig ist: entsprechend zu handeln.

Die Geschäftsstelle der deutschen Sektion der UN schreibt: „Viele der Ursachen (für den Rückgang an Biodiversität) können wir beeinflussen: politisch, gesellschaftlich und auch persönlich. Schon ein bewußtes Konsum- und Freizeitverhalten kann hier manches verändern.“

Neben dem veränderten persönlichen Verhalten setzen sich aber „zahlreiche Menschen für die Erhaltung der biologischen Vielfalt“ ein. Björk Dewert und Karl-Robert Wolf aus Westerkappeln sind zwei von ihnen, deren Handeln und Engagement in diesem Bereich nun ausgezeichnet wird. Ich freue mich mit ihnen und für sie. Denn Menschen, die so leben und sich so engagieren, werden leider immer noch übersehen oder als Exoten angesehen.

Dabei dürfte es eigentlich inzwischen klar sein: „Für uns Menschen bildet die Natur mit ihrer Vielfalt an Arten, Genen und Lebensräumen die Grundlage unserer Existenz. Sie liefert Nahrung, Trinkwasser, Medikamente, fruchtbare Böden und Brennstoffe. So sichern Bienen und andere Insekten mit ihrer Bestäubungsleistung einen großen Teil der Erträge aus Pflanzen- und Obstanbau. Bodenorganismen halten unsere Böden fruchtbar.“

Das muß man sich gelegentlich bewußt machen: Nicht die Agroindustrie und Konzerne wie Bayer mit ihren „Pflanzenschutzmitteln“ und „Saatgut“ sichern die Erträge der Landwirtschaft, sondern Bienen und Bodenorganismen, außerdem Sonne und Regen – also die Natur.

Als Theologe würde ich hier einen Schritt weiter gehen und hinter der Vielfalt der Natur das Wunder der Schöpfung erkennen wollen und also einen Schöpfer annehmen, der uns das alles schenkt. „Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen… Und es geschah so.“ (Gen 1,10) Und damit wir Menschen das nicht vergessen wird es in Vers 11 wiederholt und Vollzug vermeldet: „Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, ein jedes nach seiner Art, und Bäume die Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art.“

Was hier erzählt wird, ist im Modus der Dankbarkeit und des Staunens erzählt – und der Ehrfurcht gegenüber der Fülle des Lebens und seiner wunderbaren Ordnung. Modern gesprochen: Es geht um Bio-Diversität als Grundlage des Lebens der Menschheit. Denn der Mensch wird als letztes geschaffen und er wird „ausgezeichnet“. Er wird hervorgehoben als „Bild Gottes“. Der von Gott Geschaffene erinnert mit Leib und Seele an seinen Schöpfer. – Weithin vergessenes Wissen.

Wir Menschen haben uns emanzipiert von den Grundlagen des Lebens. Das ist, naturwissenschaftlich gesprochen, ‚die Natur‘, und geistesgeschichtlich gesehen Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde und des Lebens.

In diesem Zusammenhang las ich eine Buchbesprechung über „das einzigartige Tier“ (so die Überschrift in der SZ Nr. 174 vom 30. Juli 2020 S. 11). Besprochen wird das Buch von Michael Tomasello, Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese“.

Es geht dabei um „das Verhältnis von Mensch und Tier“, das in der Geistesgeschichte „oftmals mit der Frage nach deren Ähnlichkeiten und Unterschieden verknüpft worden“ ist. „Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die einen kategorialen Unterschied und damit die Einzigartigkeit des Menschen postulieren“. Diese Position wird häufig als von Rene Descartes begründet gesehen und als „ontologischer Dualismus“ bezeichnet. Mensch und Tier unterschieden sich grundsätzlich. Die Besonderheit des Menschen zeigt sich für Descartes vor allem daran, dass er sprechen kann und über Sprache verfügt. Tatsächlich ist die Sprache für das Leben der Menschen ähnlich grundlegend wie die Natur. Die Rettung einer Sprache, die nicht dazu benutzt wird, auszugrenzen, Haß zu verbreiten, und Dinge zu verschleiern, wäre auch ein lohnendes Projekt. Ich finde es z.B. ärgerlich, dass Gifte in der Landwirtschaft als „Pflanzenschutzmittel“ bezeichnet werden. Aber das nur nebenbei.

„Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die nur einen graduellen Unterschied sehen und damit den Menschen als eine Tierart unter mehreren einordnen.“ Für einen radikalen Materialisten besteht „zwischen den geübtesten Menschenaffen und den ungeübtesten Menschen kaum ein Unterschied.“

Zwischen diesen beiden grundsätzlichen Positionen bezieht das Buch von Tomasello insofern Position, als er beide verbindet. „Mit seinem neuen Buch, das eine atemberaubend fundierte Summe aus mehr als 30 Jahren Forschung darstellt“, kommt der Autor zu der Erkenntnis: „Der Mensch ist ein Tier, und gleichzeitig einzigartig.“ Damit ist der Autor relativ nahe bei der biblischen Erkenntnis aus Genesis 1: am gleichen Tag wie „die Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art und das Vieh nach seiner Art und alles Gewürm des Erdbodens nach seiner Art“ (1,25) geschaffen, gehört der Mensch in diese Linie und Reihe. Und gleichzeitig ist der Mensch einzigartig, denn „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (1,27). Dieser Bezug des Menschen zu Gott macht ihn aus biblischer Sicht und christlicher Perspektive einzigartig.

Christen werden (hoffentlich) die Evolutionsgeschichte des Menschen und die Erkenntnisse der Biologie und Physik und aller anderen Natur-Wissenschaften nicht leugnen. Sie werden sie allerdings auch nicht für die ganze Wahrheit über den Menschen erachten, denn der Mensch ist nicht nur ein Produkt der Natur, sondern auch ein „Produkt“ des Geistes und der Geistesgeschichte, worin der „Heilige Geist“ wiederum eine besondere Rolle spielt.

Bei der Frage, ob der Mensch also eher ein Produkt evolutionärer Entwicklung oder soziokultureller Erfahrung ist, bezieht der Wissenschaftler Stellung: „Nur in der Kombination aus Evolution und individueller soziokultureller Erfahrung konnte so etwas wie die menschliche Einzigartigkeit entstehen.“ Tomasello identifiziert die Komponenten, die zu einer Trennung der Pfade zwischen Menschenaffen und Menschen führen. „Mit der sogenannten Neun-Monate-Revolution trennen sich dann die Pfade, wenn nämlich Kleinkinder geteilte Intentionalität entwickeln. Sie vermögen mit anderen Individuen ein gemeinsames ‚Wir‘ zu erzeugen und können dabei auch die Perspektive des jeweils anderen einnehmen.“ Das ist ein erster Schritt zur Menschwerdung: sich von der eigenen Perspektive als einzig möglicher zu lösen und eine andere Perspektive einzunehmen. Im Alter von 3 bis 4 Jahren bildet sich „die Fähigkeit zur kooperativen Kommunikation mit Erwachsenen und Gleichaltrigen“ aus, die dafür sorgt, „entsprechende Konventionen und Normen zu respektieren, an ihnen teilzunehmen und sie auch gegenüber anderen zu  vertreten. In kognitiver Hinsicht bildet sich eine ‚objektive‘, und in moralischer Hinsicht eine normative Perspektive, um Phänomene, Dinge oder Situationen zu beurteilen. Schließlich (…) verfestigen sich Vernunft und Verantwortlichkeit zu einer kognitiven und moralischen Identität, die darin besteht, dass durch Kooperation mit anderen eigen Überzeugungen und Handlungen revidierbar sind, wenn dafür plausible Gründe angegeben werden.“  

Damit ist ein kategorialer Unterschied zur Tierwelt gegeben: der Mensch kann sich und sein Verhalten reflektieren und revidieren. Er kann ein anderer werden als er war bzw. ist. Man kann angesichts der Unvernunft in der herrschenden Politik in der Welt (Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien) nur hoffen, dass die Diagnose des Wissenschaftlers „im Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie“ richtig ist!

„Keine von diesen Entwicklungen findet sich -jedenfalls bislang – bei Menschenaffen, und je weiter die menschliche Ontogenese voranschreitet, desto wichtiger werden Erfahrungen und Lernen gegenüber einer bloßen Reifung“. Anders formuliert: Bildungsprozesse, die zu Erfahrungen animieren und zur Kooperation mit anderen, sind entscheidend für die Menschwerdung. Wenn die Bildung versagt, wird die Möglichkeit echter Menschwerdung verspielt. Dass der Mensch lernfähig ist, macht ihn zum Menschen.

Der Autor der Süddeutschen Zeitung meint: „Dieses Buch kommt zu einer Zeit, da die Theorie menschlicher Einzigartigkeit nicht hoch im Kurs steht. (…) Mit seinem Entwurf erneuert und verstärkt Tomasello den universalistischen Anspruch Kants, dass alle Menschen zu einer vernünftigen, kooperativen, verantwortungsvollen und moralischen Identität fähig sind.“

Und schließlich: Der „deutliche Hinweis darauf, dass die so hoch im Kurs stehende Empathie nicht ausreicht, um eine moralische Persönlichkeit zu entwickeln, sollte ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass es mindestens eben so sehr kognitive Tugenden sind, die die Verbindung zwischen dem Individuum und dem Aufbau einer auf Kommunikation, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und perspektivischer Flexibilität basierender Gesellschaft ausmachen. Das reicht nicht, aber ohne die von Tomasello so eingehend beschriebenen frühen Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung ist alles nichts.“

Was heißt das? – Menschen sollten wieder anfangen, umfassend und klar zu denken. Tun die Menschen das, können sie umkehren von einem weithin gewohnten Weg, der sie ökologisch in den Abgrund führt, in den kollektiven Selbstmord.

Für diese Umkehr sind Lernorte zu schaffen und Projekte zu entwickeln wie das, das die UN gerade ausgezeichnet hat: „Ins Freie“ bei „Natur unterwegs e.V. in Westerkappeln.

Und ich bin der Meinung, dass auch im Bereich der Politik neue Wege beschritten werden müssen, die sich deutlicher an den Erfordernissen einer ökologischen Katastrophenvermeidung orientieren müssen.

Das Programm der Grünen in Westerkappeln möchte hier Akzente setzen: es ist ein klares Statement zur Energiewende, zur Verkehrswende und zur Umgestaltung der Landwirtschaft nach ökosozialen Kriterien zur Erhaltung der Artenvielfalt und der Lebensgrundlagen aller Lebewesen: von Pflanzen, Tieren und Menschen. Das politische Motto wäre dann nicht „erfolgreich weiter“, sondern „besser leben“.

Bei Wahlen ist es sinnvoll, in politischen Alternativen zu denken und die Konsequenzen eines jeglichen Politikangebots durchzukalkulieren. Dabei geht es nie um die Bewertung und Beurteilung von Menschen und Personen (haben wir hoffentlich in der Schule gelernt), sondern um die Sache, hier also um die politische Programmatik. Wir Menschen können in der Sache und um den besten Weg streiten. Wir sollten auf keinen Fall dem und der anderen absprechen, dass jeder das Beste will für unser Westerkappeln. Auf dieser Basis aber ist zu streiten, finde ich. Andernfalls wird Politik langweilig und öde und das Interesse an der Politik erlahmt. Das müssen wir gemeinsam verhindern.

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