24. Juli 2020

Ich liebe sprechende Zitate. Sätze, von denen ich zehre, müssen entweder anregend, provokativ oder schön sein. Auch Zuspitzungen mag ich. Man kann dann ja danach ans Schleifen gehen. Also los, ein Satz der anregenden Sorte: „Mobilfunkanbieter verfügen über fast flächendeckende Informationen über den Sprach- und Datenverkehr, und jedes handelsübliche Smartphone mit GPS-Technik ist technisch gesehen etwas Ähnliches wie eine elektronische Fußfessel und Detektor für Bewegungsprofile“ (Nassehi, Die digitalisierte Gesellschaft, S. 294). Wir sind also einer Totalüberwachung ausgesetzt, was die technischen Möglichkeiten angeht. Politisch und rechtlich werden die technischen Möglichkeiten eingeschränkt – Stichwort Datenschutz. Es ist darum doch festzuhalten, dass die Technik, dien wir alltäglich nutzen, „eine Totalkontrolle (…) erlaubt“.

Nassehi entwickelt im Anschluß an Foucault einen weiteren aufregenden Gedankengang. Er behauptet: Immer schon sind Daten gesammelt worden, vor allem im 19. Jahrhundert, als der Staat stark wurde und die eigene Bevölkerung verstehen wollte. Alle Bestrebungen der Kontrolle und der Planung „erforderte eine Sammlung von Daten, für die neue Institutionen gesucht wurden, die genau das gemacht haben, was Foucault beschrieben hat: Sie haben nicht gesprochen, sondern geschwiegen. Ähnlich wie der Beichtvater zuvor zugehört und damit Macht ausgeübt hat, ist es nun der Staat, der still und leise sammelt und daraus seine Schlüsse zieht.“ (309)

Während also vormodern die Kirche die Funktion der Kontrolle über das Sozialwesen ausübte, ist es in der Moderne der Staat – und heute (in der Postmoderne) sind es die großen (amerikanischen) Tech-Unternehmen: Apple, Google, Amazon, facebook, Microsoft. Neu ist: Die Kirche und der Staat hatten Macht, weil sie Daten hatten. Aber „sie wurden nicht veröffentlicht, weil man genau wußte, dass sie das eigentliche Machtmittel zur Steuerung der Gesellschaft sind.“

Wer über Daten verfügt, verfügt also über die Macht, eine Gesellschaft zu steuern. Wenn die Daten vor allem bei US-amerikanischen Unternehmen gesammelt werden, dann liegt dort die Macht zur Steuerung einer Gesellschaft. Diese technische Realität ist politisch nicht zu begrenzen. Das ist das Dilemma der Digitalisierung.

Nassehi schreibt: „Es war (schon im 19. Jahrhundert) Big Data, die erst jenes Volk erzeugte, das man da führen sollte. Vorher wußte man nichts über das Volk. Es war da. Jetzt wurde es erzeugt.“ (309)

„Wissen ist Macht“ – wußten  die 68er.

Die Digitalisierung des Alltags führt unvermeidlich dazu, unzählige Daten zu hinterlassen, die durch die ungeheuren Rechnerleistungen immer neu kombiniert werden können. Deshalb ist im übertragenen Sinne (nach Foucault) „Schweigen keine Option mehr, weil die Alltagspraktiken (das Nutzen von Google und Smartphone) auch ohne sinnhafte Verweisungen, ohne Intentionen, ohne konkrete Sprechakte, ohne eigene Performance unvermeidlich Auskunft geben.

Foucault hat sich jemanden vorgestellt, der sprechen konnte, sich aber verweigert. Heute haben wir es mit denjenigen zu tun, auf deren sprachlichen und intendierten Handlungen es gar nicht mehr ankommt, weil der soziale Sinn ihrer Praxis in den anfallenden Daten über sie weit über das hinausgeht, was die Handlung selbst über sich wissen kann.“ (314)

Das ist das Neue, das durch die Nutzung der digitalen Technik entsteht: Sie gibt durch das Nutzerverhalten so viel preis an Informationen, dass der Nutzer darüber nicht mehr Bescheid wissen kann. Er kann bei Nutzung der Technik nicht schweigen und sich verweigern. Er kann nicht anders, als sich zu offenbaren, sich preiszugeben. Er ist damit ausgeliefert denen, die nur sammeln und ansonsten schweigen – als facebook, google etc. Der Nutzer und die Nutzerin „packen aus“, ob sie wollen oder nicht. Sie können nicht mehr nicht wollen.

In der durch Digitalisierung geprägten Gesellschaft erfolgt „die merkwürdige Verknüpfung zwischen dem Tun von Alltagshandelnden und der Registrierung ihrer Daten, die Verknüpfungen erzeugen, die im Tun selber gar nicht vorkommen.“ Das bedeutet wiederum, dass Privatheit bei einer Konstellation, „die mit einer vor allem durch niederschwellige Technik ermöglichten, fast grenzenlosen Rekombinationsfähigkeit“ faktisch ausgeschlossen und unmöglich geworden ist. „Die Digitaltechnik mit ihren detektivischen Funktionen ist ein Mittler, der mich dazu bringt, etwas zu tun, was ich selbst nicht kontrollieren kann.“ (315)

Anders gesagt: Mit der Digitalisierung geht notwendig und unvermeidbar ein Kontrollverlust einher. Ich kann nicht wissen, wer etwas von mir weiß und wie er das, was er weiß, in neuen Anwendungen und Kombinationen nutzt.

Die spannende Frage ist, ob das schlimm ist und ob die Umstände unseres modernen Lebens Auswirkungen auf die Psyche und auf das Soziale haben. Denn bei Corona konnte man erleben, dass ein Kontrollverlust Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Am besten wäre es wohl, wenn der Mensch es nicht wüßte, dass er die Kontrolle über sein Leben verlieren muß im Zuge der Digitalisierung. Wenn er sicher sein könnte, dass sein digitales Leben ein Zugewinn an Freiheit ist. Andererseits noch einmal: Wissen ist Macht. Deshalb sollte der Mensch wissen, was er tut, auch wenn es daran nichts ändern kann.

Deshalb kann ich nur sagen: (Umfassende) Bildung ist für mich ein hohes Gut. Nicht nur technische Ausbildung und wirtschaftliche Kompetenz sind wichtig, sondern auch die Fähigkeit zur Kritik (der technischen Vernunft) und zur Aufklärung. Frei nach Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Das Zitat ist von 1789 – also 231 Jahre alt.

Vom Nutzerverhalten her, in diesem Fall von denen aus gedacht, die das hier lesen, müßte ich spätestens jetzt aufhören mit dem Schreiben.

Trotzdem will ich nach so viel Theorie eine praktische Frage streifen, die mir heute Morgen in der Süddeutschen Zeitung begegnete. Es gibt Einschätzungen, wonach durch die Corona bedingt landesweit ausprobierten und erfolgreichen Versuche des Arbeitens zu Hause – Stichwort home office – 40 Prozent der aktuellen Büro-Kapazitäten übrig sein könnten, mit entsprechenden Folgen für den Immobilienmarkt und denen, die da investieren und spekulieren. Also: Leere Büroflächen und zu viele (Büro)Flächen im Angebot könnten wirtschaftlich unabsehbare Folgen für die Preise haben.

In der Zeitung von heute streiten zwei Autoren darüber: „Gehört dem Home-Office die Zukunft?“

Friederike Zoe Grasshoff schreibt: „März 2020. Plötzlich mußte die Pendlerin (19 Millionen sind es in Deutschland) nicht mehr um 5.30 Uhr aufstehen, einen Hosenanzug anziehen und 30 Kilometer in kriegsähnlichen Verkehrssituationen zurücklegen, um dann acht (okay 10) Stunden mit anderen Gestressten in einem Gebäude zu sitzen und auf dem Heimweg wieder der rituellen Umweltverschmutzung beizuwohnen.“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 169, S. 4)

Der Contra-Mann Christian Meyer halt dagegen: „Das moderne Home-Office, das seit der Corona-Krise von vielen Unternehmern nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert wird, hat das Potential, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. (…) Immer mehr Menschen haben das ungute Gefühl, dass die Arbeitszeiten verschwimmen, dass ihnen das Home-Office entgleitet. Job und freie Zeit durchdringen einander auf unangenehme Weise“.

Als Pastor und Lehrer bin ich einen guten Teil meiner Zeit immer schon „Heimarbeiter“. Die Vorbereitung einer Predigt dauert viele Stunden – der Gottesdienst vor Corona nur eine. Das heißt: den meisten Teil der Zeit arbeite ich zu Hause. Zur vorbereitenden Lektüre kann ich mich auf’s Sofa setzen – abends zwei Stunden, wenn keine anderen Familienmitglieder im Wohnzimmer sind. Und danach gehe ich an den PC und schreibe die unfertigen Gedanken, die sich aus der Lektüre ergeben, in den PC. Das ist eine große Freiheit, aber es ist eben auch so, dass Freizeit und Arbeitszeit sich durchdringen oder jedenfalls nah beieinander liegen, auch räumlich.

Wenn ich zugleich die Nachricht der IVZ von heute hinzunehme, dass die Ampelanlage am Königsteich in diesem Jahr wohl nicht realisiert wird, weil für die täglich über 10 000 Autos keine Umleitung gefunden wird, dann zeigt das ein Problem an. Würden die Staus und die tägliche Lärmbelastung und der tägliche Stress nicht tatsächlich weniger, wenn von den 6000 berufsbedingt fahrenden Autos 40 % weniger auf der Straße wären, weil der Weg zur Arbeit und zurück wegfällt? – Die Frage der zukünftigen Organisation von Arbeit hat durchaus ökologische Folgen, auch u.U. sehr positive. Dass Rechnerleistung auch nicht klimaneutral erfolgt, weil Server und Geräte wegen der puren Anzahl und der Nutzungsdauer auch energieintensiv sind, steht auf einem anderen Blatt, das ich heute dann doch nicht mehr anfange.

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