22. Juli 2020

Die Natur ist das Wertvollste, was wir Menschen haben, da sie die Grundlage für das Leben der Menschen und Tiere ist. Aber obwohl die Natur so unendlich kostbar und wertvoll ist, hat sie keinen Preis – sie kostet also nichts. Was aber nichts kostet, ist auch nichts wert. Und so gehen wir Menschen mit der Natur um. Wir schädigen und zerstören sie, weil sie nichts kostet.

In Frankreich hatte die Regierung eine Bürgerversammlung gebeten, Vorschläge für mehr Umweltschutz zu entwickeln. Dabei entstand die Idee, „den ‚Ökozid‘, das Verbrechen gegen die Natur, unter Strafe zu stellen. (…) Ökozid? Der Begriff ist in Anlehnung an den Straftatbestand des Genozid entstanden, der im Völkerrecht die Ermordung ganzer Völker oder bestimmter Volksgruppen bezeichnet.“ Seit 2002 können solche Verbrechen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verfolgt werden und strafrechtlich geahndet werden.

„Die Natur hat solche Rechte nicht“. Und sie hat auch keine Anwälte, die Verbrechen gegen die Natur anklagen könnten. Die Rodung des Regenwaldes in Brasilien, der als die Lunge der Welt gilt und für das Ökosystem der ganzen Erde von unschätzbarem Wert ist, wird politisch geduldet und sogar befeuert. Wenn also „Arten ausgerottet, ganze Landstriche auf Jahrzehnte verseucht, das Klima zerstört oder Ozeane vergiftet werden, gibt es dagegen im Völkerrecht bisher keinen entsprechenden Paragrafen, durch den die Menschheit so etwas anklagen könnte (…) Viele große, lukrative Verbrechen gegen die Natur bleiben so straflos.“

Den Begriff des ‚ecocide“ schuf in den 1970er Jahren der US-Botaniker Artur W. Galston im Zusammenhang des Einsatzes von Herbiziden im Vietnamkrieg. Als um die Jahrtausendwende „das Statut des Internationalen Strafgerichtshof geschrieben wurde, schien es sogar kurzfristig so, als ob der Ökozid“ als Verbrechen“ aufgenommen werden könnte; entsprechende Vorschläge aber wurden dann doch nicht weiter verfolgt.

„Wenn nun plötzlich die französische Regierung vorprescht und den Ökozid als Verbrechen in ihr nationales Recht aufnehmen will, dann ist das für Umweltjuristen“ ein positives und hilfreiches Signal. Für den Juristen und Berliner Büroleiter von Client-Earth, Hermann Ott, „zeigt die französische Initiative, dass sich vielerorts das Verhältnis von der Natur zu den Mitlebewesen ändert und damit auch die Stellung im Recht.“ (Petra Pinzler, in Die Zeit Nr. 29 vom 5. Juli 2020, S. 4)

Der Natur einen Wert zu geben, der sich ökonomisch im Preis abbildet und juristisch im Recht einklagbar ist, sind wichtige, aber dennoch hilflose Versuche, die Natur ihrem Ausgeliefertsein an die Menschen zu entziehen. Wichtig sind die Versuche deshalb, weil so endlich ein Bewußtsein geschaffen wird für den Wert der Natur. Wenn die Natur zerstört wird, werden die Grundlagen des Lebens zerstört – und damit das Leben selbst. Wer aber Leben zerstört z.B. durch einen Mord, der wird angeklagt und verurteilt. Dem hohen Wert des Lebens in unserer Gesellschaft, der zu Coronazeiten dazu führte, den Lockdown der Wirtschaft zu riskieren zum Schutz des Lebens, entspricht noch nicht das Bewußtsein bei den Menschen, die Grundlagen des Lebens zu schützen und jedenfalls nicht weiter zu schädigen. Wie es langfristig hilfreich ist, die Natur juristisch und ökonomisch mit einem hohen Wert (Recht und Preis) zu versehen, so ist es kurzfristig effektiver, wenn jeder einzelne Mensch das Seine dazu beiträgt, die Natur nicht weiter zu schädigen: durch ein entsprechendes Verhalten.

Ich bin gestern Abend jwd – janz weit draußen gewesen in Seeste. In der Abendsonne fuhr ich mit dem Fahrrad durch die Niederung gen Westerbeck und weiter Richtung Ortskern und dachte: Mein Gott, ist das schön hier! Warum setzen wir diese Schönheit auf’s Spiel? Warum verhindern wir nicht mit mehr Einsatz die Zerstörung der Schönheiten, die uns in der Nähe geschenkt sind und die uns alltäglich umgeben? Warum zieht es so viele Menschen in die Ferne, wo durch intensiven Tourismus ebenso wie durch intensive Landwirtschaft die schönen Orte überall massenhaft zerstört werden?

Dazu paßt ein Hinweis aus dem Feuilleton von gestern über ein Buch des Isländers  Andri Snaer Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Seine These ist, dass die Begriffe, die den Klimawandel beschreiben und zu fassen versuchen, bei uns Menschen nichts auslösen und keine Resonanz erzeugen; zu abstrakt ist das, was sie sagen.

„Wörter – so Magnason – haben unterschiedliche Ladungen und manche Begriffe brauchen viele Jahre, bis sie ihre volle Ladung erreicht haben“, bis man sich etwas unter ihnen vorstellen kann. Der Begriff „Versauerung der Meere“ ist so ein Begriff; er „ist im Grunde so groß und so tief wie der gesamte Ozean bis in ferne Zukunft. Brauchen wir, um den Ernst der Lage zu begreifen, nicht neue Wörter?“

Alex Rühle kommentiert: „In dem Wissen darum, dass nacktes Faktenwissen wenig Verhaltensänderung bringt, versuchen derzeit viele Autoren, den Klimawandel beziehungsweise die zugrunde liegenden Tatsachen anders zu verpacken.“

„Wasser und Zeit“ nimmt einen Reisebericht von 1945 zum Ausgangspunkt, in dem der Autor – der Großvater von Magnason –  „in hymnischen Ton von seinen Naturerlebnissen schwärmt, von ‚Gottes stillgeschwängerter Kosmosweite‘“ zum Beispiel „und der abendblauen Symphonie von Farben und Formen“.

Das, was da beschrieben wird, gibt es heute nicht mehr, weil das dort beschriebene Hochland „im zweihundert Meter tiefen Gletscherwasser ersoff, als der Kharanjuker-Staudamm zugestöpselt wurde.“ Dieselbe Technik wendet Magnason nun für die Zukunft an. Der Gletscher Ökjokoll wird dann verschwunden sein, „und in der tristen Einöde, auf der er früher einmal thronte, steht seit einem Jahr eine Plakette mit einem ‚Brief an die Zukunft‘, verfaßt von – Andri Snaer Magnason: ‚Alle unsere Gletscher werden im Lauf der nächsten 200 Jahre dasselbe Schicksal erfahren. Dieses Denkmal bezeugt, dass wir wissen, was passiert und was getan werden muß. Ihr allein wißt, ob wir es getan haben.“

Mit Hilfe dieses Tricks in die literarische Fiktion hinein wird eine bittere wissenschaftliche Analyse und Diagnose wie der dazu gehörigen Prognose ins Vorstellbare übersetzt, und zugleich die Dramatik deutlich gemacht ebenso wie unsere Verantwortung heute. Werden wir tun, was wir tun müssen angesichts dessen, was wir wissen? Denn klar ist: Die Katastrophe „passiert jetzt. Bald ist es irreversibel. Und es sind wir, die all das verursachen.“ (Alex Rühle, Wem nützt wirtschaftliches Wachstum? Neue Wörter für eine neue Wirklichkeit: Der isländische Autor Andri Snaer Magnason versucht, die gewaltigen Auswirkungen der globalen Erwärmung begreifbar zu machen. In Süddeutsche Zeitung Nr. 166 vom Dienstag, 21. Juli 2020, S. 12)

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