20. Juli 2020

Das Stichwort „Digitalisierung“ darf in keiner politischen Debatte fehlen. Das Wort bringt eine technische Entwicklung auf den Punkt, die längst im Gange ist und deren Ende und Konsequenzen noch nicht absehbar sind. Die Coronakrise, so heißt es, habe auch hier einen neuen Schub ausgelöst.

Armin Nassehi hat unter dem Titel „Muster“ eine „Theorie der digitalen Gesellschaft“ vorgelegt. Das Buch ist schwer zu lesen, weil es sehr langsam und behäbig daherkommt und doch auf jeder Seite spannende Thesen produziert. Wenn mich die Komplexität von ausgeklügelten Argumentationen zu überfordern droht und ich mich darin verliere, muß ich mich neu und schnell orientieren. Das geschieht digital via „google“ durch die Suche nach einer geeigneten Buchbesprechung.

Im Blick auf das oder die „Muster“ fand ich den pointierten Zugang bei Thomas Assheuer. Sein Beitrag ist freundlicherweise über ZEIT-online verfügbar

(20. November 2019, 16:57 Uhr editiert am 26. November 2019, abgedruckt in  DIE ZEIT Nr. 48/2019, 21. November 2019. Ich kaufe die Zeit immer noch in gedruckter Ausgabe, aber ohne die Digitalisierung hätte ich diesen Artikel zwar gehabt, aber nicht verfügbar gehabt!)

Er schreibt: „Nassehis Pointe kann man sich gar nicht oft genug auf der Zunge zergehen lassen, denn sie lautet: Wer die Digitalisierung bekämpft, der bekämpft die Funktionslogik der modernen Gesellschaft. Denn Big Data gibt es seit dem 18. Jahrhundert, schon damals begannen Verwaltungsfachleute, die Welt zu vermessen und menschliches Verhalten zu rastern, weshalb die heutigen Datensammler nur das zur Perfektion bringen, was ihre Kollegen vor 200 Jahren begonnen haben: Sie erfinden Klassifizierungssysteme, um das Gemeinwesen zu beobachten und verborgene Muster und Regelmäßigkeiten zu erkennen, vom Paarungsverhalten bis zur Berufswahl. Dank der Digitalisierung entdecken wir das Betriebsgeheimnis der Gesellschaft“.

Knapp gesagt; Digitalisierung paßt zu unserer Art, Gesellschaft zu organisieren und zu verstehen. Wie der Buchdruck oder die Dampfmaschine als die beiden gesellschaftlichen und technischen Revolutionen der Vergangenheit ist die Digitalisierung eine Revolution, die man nicht bekämpfen oder eingrenzen kann, weil sie ungeahnte Möglichkeiten bietet. Und weil sie technisch funktioniert. Und weil sie dem entgegen kommt, was Menschen wollen: ihre (begrenzten) Möglichkeiten erweitern.

Dass „Grenzenlosigkeit“ durchaus ein wichtiges Thema ist mit problematischen ökologischen und sozialen Folgen, wird bei der Diskussion um Digitalisierung übersehen. Auch deshalb, weil sie als ein technisches Phänomen gesehen wird und weil sie technisch funktioniert.

Dieses grundsätzliche Einverständnis mit einer durchaus problematischen Technik und ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen kritisiert dann auch Assheuer: Nassehi sehe zwar „die gespenstische Macht der Datenkraken und die Gefahr, dass die Öffentlichkeit manipuliert wird oder die Digitalisierung vertraute Arbeitswelten zerstört. Doch seine Bedrohungsanalyse fällt denkbar knapp aus und wirkt zuweilen seltsam heruntergedimmt. Dass die Entwicklung von Algorithmen nicht neutral, sondern macht- und interessengesteuert ist; dass Tech-Konzerne den Kapitalismus tief ins Innerste des Subjekts treiben, wo sie intimste Regungen abgreifen und als Datensätze zwecks Verhaltenssteuerung weiterverkaufen – dieses historisch Neue und Ungeheure erreicht Nassehi nicht wirklich.“

Nassehi beschreibt zwar, wie die Digitalisierung den Kapitalismus als gesellschaftliche und wirtschaftliche Gestalt unseres Lebens auf eine neue Stufe hebt und wie sich der Bedarf der benötigten Ressourcen verschiebt – vom Öl auf Daten, von fossilem Stoffwechsel auf digitalen, von „materiellen“ auf immateriellen“ – aber er unterschätzt die Folgen: „dass die Tech-Konzerne den Kapitalismus (der es immer mit Grenzenlosigkeit und deshalb Zerstörungsdynamiken zu tun hat) tief ins Innerste“ des Menschen treiben. Dadurch wird diese Form des Weltverstehens zur totalen Weltanschauung – sie wird gleichsam „natürlich“ und daher „alternativlos“.

Wenn man das versteht, dann versteht man das Aufkommen nationaler Populismen und z. B. das Erstarken der AfD. Unterschwellig spüren die sich hier politisch versammelnden Menschen die Bedrohung, die für die Identität eines Menschen von Phänomenen wie der Digitalisierung und der Globalisierung ausgehen. Sie versuchen sich, dem entgegen zu stemmen. Das aber ist zwecklos und chancenlos, weil sie grundsätzlich die Funktionslogik der modernen Gesellschaft zu bekämpfen trachten. Und das geht nicht. Trotzdem können bei Wahlen hohe Stimmanteile dabei herauskommen – womöglich sogar Mehrheiten. Nur: die politische Programmatik, mit der diese Parteien (europaweit, sogar weltweit) u.U. mehrheitsfähig werden, wird nicht funktionieren.

Anders gesagt; Solche populistischen Parteien werden scheitern, auch wenn sie (Wahlen) gewinnen (können). Die Welt ist zu komplex geworden, als dass Versuche, sich dieser Komplexität zu entziehen, weil sie Menschen tatsächlich überfordert, erfolgreich sein könnten. Es gibt also so gesehen „keine Alternative“ für Deutschland, weil Deutschland Teil einer digitalisierten Weltgesellschaft ist.

Assheuer schließt seine Buchbesprechung folgendermaßen: „Bei aller kühlen intellektuellen Brillanz hat Nassehis Studie etwas wohlmeinend Therapeutisches, sie stillt einen Trostbedarf. In vollem terminologischem Ornat schaut der Autor vom Himmel der Theorie auf die verunsicherten irdischen Schäfchen, die sich im Datennebel verirrt haben und nicht erkennen können, dass hinter all dem digitalen Chaos ganz viel Ordnung ist. Freundlich mahnt der gute Hirte zur Gelassenheit, er organisiert Systemvertrauen und versichert: „Die moderne Gesellschaft ist nicht das Ende einer Ordnung, sie generiert Ordnungen in nie da gewesener Form.“

Dass Assheuer hier sprachlich in die Bildwelt des Religiösen einsteigt, zeigt, dass wir es bei der Digitalisierung, die als Technikphänomen daherkommt, ebenso wie beim Kapitalismus, der als Wirtschaftsform daherkommt, tatsächlich mit Formen der Religion zu tun haben, ohne das zu merken.

Als Theologe und Pastor weiß ich aber: Religion fordert Nachfolge und Opfer. Weshalb ich mich für Religionskritik einsetze und Christ bin – aus voller Überzeugung. Das macht es aber nicht einfach, auch nicht, was die Bewertung angeht des Phänomens, das uns als Einzelne und als Gesellschaft längst bestimmt: die fortschreitende und unaufhaltsame Digitalisierung. Deshalb ist die brillante Analyse von Nassehi über eine digitalisierte Gesellschaft für mich auch nicht tröstlich, sondern trostlos. Aber Aufklärung und Verstehen können eben auch trostlos sein; unverzichtbar ist dennoch beides: die Aufklärung über das „Betriebssystem unserer Gesellschaft“ und das Verständnis für die Gesellschaft als Ganzer. Hier einzugreifen und zu steuern – dann doch auch umzusteuern, wenn man merkt, dass es so nicht weitergehen kann, weil das Leben und die Welt doch nicht grenzenlos sind, – ist für mich die Motivation, mich nun ins politische Treiben zu stürzen mit der Kandidatur für das Bürgermeisteramt. Denn die Gestaltung des Lebens ist immer an konkrete Orte gebunden – trotz aller digitalen Realitäten, die ihren Ort am Bildschirm haben. Aber es gibt eben ein Leben über den Bildschirm und über das Display hinaus.

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