1. September 2020

„Wir lesen gern Geschichten starker Bekehrungen“ schreibt Armin Nassehi in der aktuellen ZEIT als Replik zu den Babyboomer-Gedanken von Bernd Ulrich. Der hatte letzte Woche Nassehi als prominenten Vertreter einer „Weiter-so“-Haltung identifiziert und kritisiert.

Nun antwortet der Soziologe aus München dem Redakteur aus Hamburg. Er sieht in den „Confessiones“ des Kirchenvaters Augustin (um 400) den „Archetyp solcher Umkehr-Geschichten, die den neuen Menschen in sich selbst entdecken.“ Allerdings sind solche Geschichten einer grundlegenden Umkehr „eher die Ausnahme. Sowohl das biologische Leben als auch die psychische Disposition und die eingeübte Praxis spielen dem veränderungswillligen Menschen einen Streich“. Die Überschrift zu diesem Beitrag fasst das Phänomen in die Formel der „unerträglichen Trägheit des Seins“. (Die ZEIT, 27. August 2020 Nr.36, S. 6)

Die Soziologie – so rechtfertigt Nassehi seine Position des Abgeklärten frei nach Marx – will die Welt (nur) verstehen, nicht verändern. Die politischen Träumer (und naiven Revolutionsromantiker in den Augen Nassehis) wollen die Gesellschaft aber nicht nur interpretieren, sondern verändern.

Ihnen und mir gibt der Soziologe einen sachdienlichen Hinweis: Es müsse darum gehen, „die Eigendynamik der Gesellschaft und den Eigensinn von Akteuren auf unterschiedlichen Feldern der Gesellschaft ernst zu nehmen. Wenn die Losung lautet: Hört auf die Wissenschaft, dann vielleicht auch auf diese sozialwissenschaftliche Erkenntnis: Die Gesellschaft ist kein Objekt, das sich der Bearbeitung stellt, und auch kein Subjekt, das man mit starken Sätzen zu etwas bringen kann.“

Was aber ist die Gesellschaft dann, wenn sie weder Subjekt noch Objekt ist? – Die Antwort: Sie ist ein System mit stabilen Routinen. Deswegen stellt sich Veränderung nur sehr langsam ein.

Die Corona-Krise und die sehr engagierten und radikalen Reaktionen durch die Politik darauf sind nach Nassehi kein Gegenbeispiel, sondern eine paradoxe Bestätigung. „Denn das Durchregieren war nur möglich, als die Gefahr als existentiell erlebt wurde. Andere Krisen, etwa die Klimakrise, die eben keine plötzliche, sondern eher chronische Krisen sind, erzeugen kaum diese Form der Betroffenheit – weswegen hier die Trägheit der Gesellschaft und ihre Routinen wieder durchschlägt.“

Ist das also die Lage unserer Tage? – Die existentielle Bedrohung von Covid-19 ist nicht verschwunden, aber wir haben uns darauf eingestellt und damit zu leben gelernt. Die Klimakrise vollzieht sich schleichend und über Jahre; deswegen werden wir mit ihr zu leben lernen.

Wahrscheinlich wird es so sein und so kommen, aber die Anzahl der Opfer wird die der Corona-Krise um ein Vielfaches übersteigen. Und es wird dann auch keine Hoffnung auf einen Impfstoff geben, weil das System der ökologischen Stabilität, wenn es kippt, zeitliche Dimensionen annimmt, die für Menschen unüberschaubar sind. Die Grünen wissen das aus der Atom-Debatte: Wenn man sich hätte sicher sein können, dass das Problem des Atommülls in 10, 20 oder 30 Jahren erledigt gewesen wäre, dann hätte man sich mit dieser Technologie vielleicht noch anfreunden können. Aber 5000 Jahre (oder 10 000) mit der Gefährlichkeit des Mülls zu leben und auch keine „Mülltonne“ dafür vorrätig zu haben, das erschien vielen dann doch zu tollkühn zu sein für eine als zukunftsfähig eingestufte Technologie.

Wird also die heute bereits spürbare Klimakrise aufgrund der Neigung des Menschen zur Trägheit unweigerlich in eine Klimakatastrophe führen? Tatsächlich nennt mein theologischer Lehrer Karl Barth Trägheit eine Gestalt der Sünde. Für die Sünde ist es charakteristisch, dass der Mensch ihr verfallen ist und ihr verhaftet ist; er ist unabwendbar ein Gefangener und Getriebener einer transpersonellen Macht, die der Glaube „Sünde“ nennt. Gleichzeitig hat die Sünde eine individuelle und persönliche Komponente insofern, als sich jeder Mensch aktiv als Sünder betätigt, ohne es zu wissen. Nur eines ist dem Gläubigen im Anschluß an den Apostel Paulus klar: die Sünde führt zum Tode. „Der Tod ist der Sünde Sold“ schreibt er an einer Stelle.

Das bedeutet im Blick auf die Klimakrise: Wenn der Mensch und die Menschheit so träge bleibt und sich keine Verhaltensänderungen im persönlichen Verhalten und in politischen Visionen einstellen, dann läuft ein am Ende tödlicher Selbstzerstörungsprozeß der Menschheit ab. Der „Ruf zur Umkehr“ (Umkehr zum Leben; vgl. den ersten Tagebucheintrag vom 8. Juni) ist eine Einladung zum Ausstieg aus dieser lebenszerstörerischen Dynamik oder – weniger theologisch formuliert, eine „Einladung, die Welt neu zu denken“ (Maja Göpel).

„Geschichten starker Bekehrungen“ sind sehr selten, schreibt Nassehi. Angesichts der Klimakrise ist eine solche Bekehrung allerdings wohl unausweichlich, wenn es eine Zukunft für die Menschheit geben soll. Der Grund für diese Notwendigkeit ist einfach und zwingend: Es gibt keinen anderen Planeten, der den Menschen solche Lebensbedingungen bietet wie die Erde. Entweder wir leben hier auf Erden und bewahren ihre Lebensgrundlagen (christlicherseits unter dem Stichwort „Bewahrung der Schöpfung“ angesprochen) oder wir zerstören sie – und damit uns selbst. Denn „there is no planet B“ – es gibt keinen zweiten Planeten mit diesen Voraussetzungen zum Leben außerhalb der Erde und wie die Erde. Trotz aller Neigung zur Trägheit und zum „weiter so“ – Umkehr ist nötig.

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