18. August

Für einen Pastor ist es wichtig, „die Welt“ zu verstehen, für einen Bürgermeister auch. „Die Welt“ besteht vor allem aus gesellschaftlichen Entwicklungen und Zusammenhängen. Gesellschaftliche Entwicklungen und Trends wahrzunehmen und zu verstehen ist deshalb wichtig, damit man darauf reagieren kann. Die Soziologie hilft dabei.

Einer der wichtigsten Soziologen der letzten Jahrzehnte war Niklas Luhmann. Er hat geholfen, mit Hilfe der sog. „Systemtheorie“ die funktional differenzierte Gesellschaft der Nachkriegszeit zu verstehen. Simpel gesagt hat er festgestellt, dass jedes gesellschaftliche System bestimmten, aber unterschiedlichen Regeln unterliegt. Der Bereich der Wirtschaft funktioniert anders als der Bereich Familie. Und das „System Religion“ erfordert ein anderes Denken und eine andere Sprache als das Rechtssystem. Eine Gesellschaft funktioniert im Zusammenspiel ihrer verschiedenen Teilsysteme.

Robert Pausch und Bernd Ulrich bringen in einem Interview mit dem aktuell angesagten Soziologen Andreas Reckwitz die Soziologie Luhmann auf einen Nenner: „Die unausgesprochene Grundregel dieser Gesellschaft (nach dem Verständnis Luhmanns) lautete: Solange wir nicht extrem sprechen, kann auch nichts Extremes passieren.“ Der Eindruck der Redakteure der ZEIT ist, dass hier „in den vergangenen Jahren etwas Dramatisches passiert“ ist, weil das offenbar nicht mehr gelte: „von der Ökologie bis zur Geopolitik geschehen lauter extreme Dinge.“

Reckwitz reagiert auf diese Beobachtung: „Luhmanns Systemtheorie fand ich mit ihrer eingebauten Überraschungslosigkeit immer schon problematisch.“ Bei seiner Annahme, die Gesellschaft sei funktional differenziert, handele es sich „um ein unveränderliches Raster für alle gesellschaftlichen Entwicklungen, das letztlich sagt: Es kann eigentlich unendlich lange so weitergehen.“

Dieses Verständnis von Gesellschaft war für Deutschland in der Nachkriegszeit beruhigend und anregend zugleich. Es hat das Verhalten der Menschen bestimmt. Wenn das stimmte, dann bedeutete das Sicherheit und Klarheit. Die „Welt“ war beherrschbar und in diesem Sinne „sicher“. Menschen geht es gut, wenn Umstände beherrschbar sind und es eine gewisse Sicherheit im Leben gibt. Reckwitz nennt die Theorie Luhmanns deshalb auch „ein normatives System. Es wäre beruhigend, wenn die Gesellschaft nichts anderes wäre als eine Addition von Teilsystemen. Aber das ist sie nicht. Es gibt tiefgreifende Transformationen, Konflikte, Brüche, die sich in dieses Raster nicht einfügen“ – sagt Reckwitz in der ZEIT.

Ausganspunkt des Gesprächs war die Beobachtung, dass Andreas Reckwitz und seine Bücher gerade sehr populär sind. Auf die Frage, warum das so ist, antwortet er: „In dem Moment, in der Gesellschaften ein Krisenbewußtsein ausbilden, gewinnt die Soziologie an Bedeutung.“ Dieses Krisenbewußtsein hat sich in den letzten 10 Jahren rasant herausgebildet. „Die Zukunft erscheint nicht mehr ohne weiteres als Fortsetzung der Gegenwart. Das ruft die Gesellschaftstheorie auf den Plan.“

Aussagen wie diese lassen die Theorie von Reckwitz sogar für kommunalpolitische Diskussionen spannend werden. Beispiel Tecklenburger Nordbahn. Seit 1966 ist sie für den Personenverkehr deaktiviert, weil die Menschen allein in ihren Autos unterwegs waren, mit den bekannten Folgen von Lärmbelastung und Umweltverschmutzung. Außerdem ist es so voll auf den Straßen, dass man nicht mehr gut vorankommt. Autos werden nicht mehr als Zugewinn an Freiheit erlebt, sondern als zunehmend als Störfaktor, als Umweltbelastung sowieso.

Die Steigerung des Individualverkehrs mit Autos ist kaum noch möglich und sinnvoll. Wenn die FDP und die Bürgergemeinschaft in Westerkappeln die Reaktivierung der Tecklenburger Nordbahn ablehnen, dann hat das für die Zukunft Westerkappelns gravierende negative Folgen. Dieser Trend ist heute bereits absehbar. In München oder Berlin „wachsen“ die Gemeinden (und der Wert von Immobilien), die an Bahnstrecken liegen, die sie mit der Großstadt verbinden. So können Vorteile des Lebens in der Kleinstadt mit den Bedürfnissen der Menschen nach „Stadtleben“ verbunden werden und Kommunen attraktiv bleiben. Das Auto spielt in modernen Stadt- und Verkehrskonzepten der Zukunft praktisch keine Rolle mehr. Es hat seine Zeit hinter sich. Das, was selbstverständlich war, dass junge Menschen mit 18 den Führerschein machten und das Auto das Versprechen von Freiheit gab, ist nicht mehr zukunftsfähig.

Ein Verzicht auf die Reaktivierung einer bestehenden Bahnstrecke wäre daher 2020 ein dramatisches politisches Versäumnis, während es Mitte der 60er Jahre sinnvoll erschien, auf die Flexibilität des Autos zu setzen. Das gleiche gilt für andere Bereiche. Es mag 1980 sinnvoll gewesen sein, die Produktion von Kleidung in Deutschland aufzugeben und nach China, Vietnam und Bangladesch „auszulagern“. Bei den Sozial- und Umweltstandards, die in den Ländern herrschen und bei der Klimabilanz ihrer Produkte ist ein solches System der Produktion ökologisch nicht mehr zukunftsfähig.

So erklärt Reckwitz seinen Erfolg bei Politikern. Er versuche, „in einem Gesamtpanorama den Strukturwandel von der Industriemoderne zur Spätmoderne mit seinen Ursachen und Folgen zu entfalten. (…) Am Ende steht die Frage: Wie könnte es nun weitergehen?“

Und genau das ist meine und unsere Frage. Wir spüren, dass wir an Grenzen stoßen und dass es so wie bisher gewohnt nicht weitergehen kann, auch nicht weitergehen darf.

Wie aber dann? Was müssen wir tun, damit wir überleben in Zeiten der Dürre, der Hitze, des Arten- und Waldsterbens? Besteht Lebensqualität darin, jeden Tag billiges Fleisch zu essen und zwei- bis dreimal im Jahr in Urlaub zu fliegen oder ist es ein Gewinn an Lebensqualität, das Gemüse aus dem eigenen Garten zu essen und mit dem Rad die schöne Umgebung in der Nähe zu erfahren oder in anderen Teilen Deutschlands zu erkunden?

Wenn das der Trend wäre, dann ist es sinnvoll, wenn Westerkappeln sich für so eine Art von Tourismus öffnet und die Infrastruktur dafür schafft. Das bedeutet aber: Die Landschaft muß schön und vielfältig bleiben bzw. wieder werden. Denn wir erleben seit Jahren einen Verlust an Vielfalt in der Natur und im alltäglichen Leben. Die Städte z.B. sehen in ihren Zentren inzwischen alle sehr ähnlich aus, weil dieselben Ketten das Erscheinungsbild prägten. Nun geraten auch die großen Geschäfte und Geschäftsideen der Vergangenheit in eine Krise. Die Frage ist: Werden die Innenstädte überleben? Auch Osnabrück hat Schwierigkeiten, wenn zu viele Geschäfte leer stehen.

Reckwitz ordnet das alles ein: Die großflächige Verunsicherung der Gesellschaft betrifft mittlerweile „die eigene Lebenssituation: Man hat sich hier lange mit dem Modell des sozialen Aufstiegs, der für alle erreichbar sei, identifiziert. In den 1950er bis 1970er Jahren funktionierte das auch. Nun aber stockt dieser Prozeß (…). Das Aufstiegs- und Fortschritts- und Immer-mehr-Versprechen erscheint immer weniger realistisch. Die Vorstellung, dass Fortschritt immer mehr Gewinn bedeutet, hat sich diskreditiert. Es verbreiten sich Verlusterfahrungen.“

Das ist insofern eine dramatische Veränderung, als dass die Logik des „weiter so“ und der Steigerung (von Effizienz, Produktivität und BIP) an natürliche und ökologische Grenzen stößt. Das, was jahrzehntelang galt, gilt in Zukunft nicht mehr. Weder die Menschen noch die Gesellschaft noch die Politik haben sich darauf eingestellt. Die Zeit der „großen modernen Fortschrittserzählungen mit ihren Verheißungen“ ist vorbei. Das verunsichert Menschen und verursacht psychische Probleme und politische Regression (es werden Sündenböcke gesucht für das kommende Ende der Sicherheiten).

Es zeigen sich die Strukturen eines „Staates, dem es darum geht, Risiken für die Gesellschaft abzumildern, gesundheitliche oder ökologische etwa. Dafür ist eine gute Infrastruktur zentral. Dabei muß man aber sehen: Das ist eine Politik, in der es nicht mehr darum geht, in Zukunft das Beste zu erreichen, sondern das Schlimmste zu verhindern.“

Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass es in Zukunft darum geht, in allen Bereichen „das Schlimmste zu verhindern“. Wenn der Klima- und Umweltschutz nicht gelingt, dann bekommen wir gravierende gesundheitliche und soziale Probleme. Deshalb ist ein konsequenter Umwelt- und Naturschutz das Gebot der Stunde auch in der Kommunalpolitik. Jedes Jahr, das wir hier verlieren und wo ein Umdenken und Umsteuern verhindert wird, verschärft die Probleme in wenigen Jahren dramatisch. Nicht zuletzt diese Erkenntnis hat mich dazu bewogen, bei den Grünen verstärkt einzusteigen und in der Kommunalpolitik Verantwortung zu übernehmen dadurch, dass ich mich zur Kandidatur als Bürgermeister bereit erklärt habe.

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