4. August 2020

Sigmar Gabriel hat in der aktuellen Ausgabe der ZEIT eine berührende Würdigung des am 26. Juli im Alter von 94 Jahren verstorbenen Hans Jochen Vogel (SPD) verfaßt. Aus der eigenen Lebensgeschichte heraus erinnert sich Sigmar Gabriel an die Modernisierung des Familienrechts, die Hans Jochen Vogel als Justizminister 1974 durchsetzte. „An die Stelle des überkommenen Schuldprinzips im Scheidungsrecht, bei dem in der bürgerlichen Rechtstradition meistens die Frauen ‚schuldig geschieden‘ wurden, trat jetzt das Zerrüttungsprinzip.“ Im Hintergrund dieser Reform stand das „Bild einer partnerschaftlichen Ehe, deren Ende dann wenigstens den Anspruch auf einen Versorgungsausgleich auslöste“.

Gabriel resümiert: Diese Reform „befreite viele Frauen und Kinder ebenso wie meine Mutter, meine Schwester und mich endgültig von den Versuchen der Väter, auch nach der Trennung Gewalt über ihre bisherigen Familien zu behalten. Meine Kindheit und Jugend wären ohne Hans Jochen Vogel gewiß anders verlaufen“.

Das Beispiel zeigt, welche Bedeutung und welche Wirkungen politische Entscheidungen haben können. Später ist das Recht der Väter an den eigenen Kindern dann wieder gestärkt worden. Auch das eine aus meiner Sicht richtige und wichtige Entscheidung.

Schließlich erinnert Gabriel an den Begriff der „inneren Sicherheit“, den es im „umfassenden Sinne erst (gibt), seit der damalige Bundesjustizminister Vogel ihn 1976 zum Merkmal sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik machte, und zwar als „Teil der am Bürger zu gewährleistenden Freiheitssphäre und ebenso als Teil seiner konkreten Lebensqualität.“ Das sind beachtliche und gewichtige Formulierungen, die nichts an Aktualität eingebüßt haben.

Nach der Lektüre dieses bewegenden Nachrufs wird deutlich, dass ganze Generationen von Politikern in der SPD aus Dankbarkeit für verbesserte Lebensumstände und Lebenschancen den Weg in die SPD gefunden haben und sie dadurch in den 70er Jahren zu einer starken Volkspartei wurde. Umgekehrt wurde diese starke und stolze Partei dauerhaft geschwächt durch die Reformen der „Agenda 2010“ der Ära Schröder. Da kam es – aus Sicht der sozial schwächeren Glieder der Gesellschaft und inzwischen auch soziologisch und statistisch nachweisbar – zu einer Umverteilung des Vermögens zugunsten der Wohlhabenden, allerdings auch zu einem signifikanten Rückgang der Arbeitslosigkeit; dies wiederum zugunsten oft prekärer Arbeitsverhältnisse.

Zurück zu Gabriel und Vogel. Von Vogel wird ja in vielerlei Andekdoten von seiner „Klarsichthüllen-Akribie“ erzählt. Aus Gabriels Sicht waren sie „eine analoge Form der Wiedervorlage, um nichts und niemanden zu vergessen. Die Kehrseite der oft als ‚Pedanterie‘ karikierten Genauigkeit im politischen und persönlichen Leben Vogels war nämlich Verläßlichkeit. So wie keine Idee zu groß war, um sie nicht Schritt für Schritt zu verfolgen, so war eben auch kein Anliegen zu klein, um ihm nicht nachzugehen und es angemessen zu beantworten.“

Was für eine großartige Würdigung, die Hans Jochen Vogel für jeden politischen Menschen zum Vorbild zu machen in der Lage ist.

Ich las in der IVZ im Zusammenhang der Vorstellung von Annette Große-Heitmeyer (vergangenen Samstag, den 1. August 2020) die Ankündigung, dass ich auch noch dran komme. Da werde ich vielleicht auch nach einem politischen Vorbild gefragt, Wenn ich bis heute keines gewußt hätte, weil es zu viele gibt, dann könnte ich mich aufgrund dieser liebevollen und einfühlsamen Würdigung von Hans Jochen Vogel  des als hemdsärmelig beleumundeten Gabriels einen nennen.

Auch das schreibe ich mir gern ins Gedächtnis: „Der aus bürgerlichem Hause stammende Vogel zeigte der Sozialdemokratie nicht selten, dass Solidarität vor allem eins beinhaltet: verantwortliches Handeln für sich und andere. Der bekennende Katholik Vogel wußte, dass compassion eine Idee von gemeinschaftlichem Leben ist und weit mehr als Mitgefühl. (…) Mag er äußerlich auch noch so gestreng dahergekommen sein: ausgezeichnet hat ihn eine große Herzenswärme. An andere denken und wo immer möglich zu helfen, das hat Hans Jochen Vogel bis in die letzten Tage seines Lebens ausgezeichnet. Gestorben ist deshalb nicht nur ein großer Sozialdemokrat, sondern vor allem ein großer Menschenfreund, ein beeindruckender Mensch.“ (Sigmar Gabriel, Ein Menschenfreund, in Die ZEIT Nr. 32 vom 30. Juli 2020, S. 6)

Das ist eine Würdigung eines Menschen und eines Politikers, die das Zeug hat, über den Tag hinauszuweisen. Für mich wird hier der Maßstab eines Politikverständnisses und -stils formuliert, den ich vorbildlich finde; und sollte ich in der Kommunalpolitik demnächst eine größere Rolle spielen, wären diese Worte Maß gebend.

Durch die Lektüre fällt mir ein anderer Politiker ein, den ich als  beeindruckend in Erinnerung habe: Erhard Eppler. – Auch er wäre mir spontan nicht eingefallen, aber er gehört in die Riege der Politiker – in diesem Falle übrigens bekennender Protestant – , die mich geprägt haben in den 80er Jahren. Ich wäre nur bei spontaner Nachfrage wohl nicht auf ihn gekommen, ebensowenig wie auf Hans Jochen Vogel. Dank an Sigmar Gabriel für diese wunderbare Würdigung.

Erhard Eppler hat – wie ich soeben herausfand – eine eigene Homepage. Dort steht etwas über ihn zu lesen: gleicher Jahrgang wie Vogel, 1926 geboren, und gestorben am 19. Oktober 2019.

„Erhard Eppler wurde 1926 in Ulm geboren. Nach Gymnasium und Kriegsdienst (1943/45) machte er 1946 Abitur und studierte in Frankfurt/Main, Bern und Tübingen Englisch, Deutsch und Geschichte. 1951 promovierte er zum Dr. phil. und arbeitete von 1953 bis 1961 als Gymnasiallehrer. (…) 1956 wandte er sich der SPD zu. Für die Sozialdemokraten saß er von 1961 bis 1976 im Bundestag,(…). Im Oktober 1968 wurde er Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. 1969 und 1972 im Amt bestätigt, trat er im Juli 1974 wegen Differenzen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt zurück. Seit Mai 1970 war Eppler im Parteivorstand, von Mai 1973 bis Mai 1982 und von 1984 bis 1991 auch im Parteipräsidium. Von 1973 bis 1981 fungierte er als SPD-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg.

1975 bis 1991 leitete er die Grundwertekommission der SPD. Als stellvertretender Vorsitzender der Programmkommission wirkte Eppler 1984 bis 1986 entscheidend am Entwurf des SPD-Grundsatzprogramms mit. (…)
Eppler, der 1968 bis 1984 Mitglied der EKD-Synode war, kam im Oktober 1977 für sechs Jahre in den Vorstand des Deutschen Evangelischen Kirchentags. 1981 bis 1983 und 1989 bis 1991 war er amtierender Kirchentagspräsident.
Im Sommer 1991 verabschiedete er sich aus allen politischen Ämtern, im November 1991 schied er zu Gunsten einer ostdeutschen Kandidatin aus dem Vorstand des Kirchentags aus, blieb aber bis 1997 Mitglied des Kirchentagspräsidiums.“

In einem Text von 2011 schreibt Erhard Eppler: „Wo Wachstum zum übergeordneten, allgemein anerkannten Ziel der Politik wird, entstehen Abhängigkeiten. Denn das Wachstum „machen“ ja nicht die Politiker, sondern die Unternehmen. Sie bei Laune zu halten oder auch anzulocken, etwa durch niedrigere Steuern, wird notwendiger Bestandteil einer „Wachstumspolitik“. So kam es zum ruinösen Wettbewerb der Staaten, auch der europäischen, um die niedrigsten Unternehmenssteuern, der mehr zur Staatsverschuldung beigetragen hat, als die meisten Ökonomen zugeben wollen. Der Staat musste „sparen“, was praktisch hieß, dass er Aufgaben vernachlässigen oder privatisieren musste. Was dabei herauskommt, kann man heute in deutschen Städten studieren.“

Man reibt sich die Augen, wenn man liest, was 2011 diskutiert wurde:.

„ Inzwischen diskutieren wir, ob, um des Klimas willen, nicht auch der Fleischverbrauch schrumpfen müsste, ob wir, um der Gesundheit willen, nicht mehr Gemüse essen wollten. Politik beschäftigt sich mit der Frage, wie der Güterverkehr auf der Schiene rascher wachsen kann als der auf der Straße, und irgendwann werden wir auch die Augen davor nicht mehr verschließen können, dass sich der Ausstoß von Kohlendioxyd nicht halbieren lässt, wenn der Luftverkehr sich verdoppelt.

Was Frank Walter Steinmeier vor der Bundestagswahl 2009 als ein Programm für Deutschland vorlegte, war eine Politik selektiven Wachstums: Wachsen sollten die „grünen Industrien“ und die Dienstleistungen am Menschen, die sich nicht automatisieren lassen. Dort sollten neue Arbeitsplätze entstehen.“

Quelle: Selektives Wachstum und neuer Fortschritt (04.01.2011)
— Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, Zu finden unter erhard-eppler.de/Textarchiv

Artikel kommentieren

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden. Weiteres entnehmen Sie bitte der Datenschutzerklärung.