11. Juli 2020 – Weniger ist mehr

„Die Wende zum Weniger“ – so das Titelthema der neuen ZEIT. „Es ist die Herausforderung des Jahrhunderts. Sind unser Konsum und unsere Wirtschaft so zu verändern, dass die Natur überleben kann?“ –

Uwe Jean Heuser erkennt zwei Gruppen und zwei Haltungen. Die eine will immer mehr. „Das Mehrlager denkt, die Welt ließe sich dadurch retten, dass die Wirtschaft weiter wächst und ihre Innovationskraft zum Wohle der Umwelt voll entfaltet.“ Sie müsse nur „die Richtung ändern: weg von Materialverbrauch und Klimaschädigung, hin zu mehr Natur und Dienstleistung. Unsere Idee von Wohlstand müsse also eine ganz andere werden.

Der Schönheitsfehler: Das Mehrlager ist den Beweis, dass diese optimistische Theorie umsetzbar ist, bislang schuldig geblieben.“

Anders gesagt: Dieser Ansatz hat sich bisher als unrealistisch erwiesen. Er funktioniert nicht. So steigt z.B. der Ausstoß des Klimagases CO 2 weiter an. „Im Jahr 2019 stellte die Menschheit mit 35 Milliarden Tonnen einen neuen, tieftraurige Rekord auf.“

Deswegen favorisiert das „Weniger-Lager“ eine andere Strategie. Sie fordern eine „Verkleinerung (…) der Wirtschaft durch geringeren Konsum. Nur auf diese Weise werde sich der Planet erholen. Die Menschen könnten mehr Wert auf Freizeit und (…) auf gesünderes Leben legen“. Vor 10 oder 20 Jahren waren Menschen mit weniger Wohlstand doch auch schon glücklich. „Die Glückforschung für Industrieländer zeige, dass verläßlich, dass mehr Geld und Konsum die Zufriedenheit kaum noch steigere, wenn die Grundbedürfnisse erfüllt seien.“

Das Problem hier ist: Menschen können sich in keinem Fall mit einem „Verlust“ anfreunden, auch wenn der Verlust in Wahrheit ein Gewinn wäre. Ein „Weniger“, das sich in Zahlen niederschlägt und mit Schrumpfung und Verlust verbunden wird, ist den Menschen ein Gräuel. „Die Menschen leiden sogar mehr unter Verlusten als sie sich über Gewinne freuen können. Allein aufgrund dieses zutiefst menschlichen Charakterzuges dürfte eine Wende zum Weniger erhebliche Verwerfungen mit sich bringen“ schreibt Heuser (Die ZEIT Nr. 29 vom 9. Juli 2020, S. 19)

Während die eine Strategie zur Rettung des Planeten unrealistisch ist, ist die andere unmenschlich. Es sieht also nicht gut aus für die Rettung unseres Planteten und das Projekt „Bewahrung der Schöpfung“.

Andererseits, so die Überlegung, hat die Coronakrise bei allem Katastrophalen doch auch gezeigt: Zur Rettung von Leben kann ein Staat und können Menschen radikal umsteuern. Der Lockdown hat „die Wirtschaft“ als das Maß allen Denkens abgelöst durch den Schutz der Gesundheit und des Lebens. Und Menschen haben gespürt und „bewiesen, dass sie mit weniger auskommen können. Sie haben es teilweise sogar genossen. Mehr Ruhe, weniger Konsumterror, das schien fast schon als eine neue Glücksformel.“

Die Lage ist also widersprüchlich, mindestens paradox. Und wie sich die Mediziner und Virologen nicht einig waren und über die angemessene Reaktion auf die Pandemie stritten, so sind sich auch Wirtschaftswissenschaftlicher nicht einig über die richtige Antwort auf das Jahrhundertthema.

Jeder Mensch muß hier also selber eine Antwort finden. Ich habe mich ja mit Maja Göpel deutlich positioniert. Wenn Strategien scheitern – und die Strategie des „immer mehr“ ist gescheitert – dann muß man „die Welt neu denken“ und umsteuern.

Tim Jackson sieht dafür eine einmalige Chance. Denn die bedeutsamste Botschaft und Lehre der Coronazeit sei die, „dass Regierungen zum Wohle der Gesundheit dramatisch intervenieren können. (…) Die Krise bietet uns die einmalige Gelegenheit, die alten Wirtschaftsmodelle zu überarbeiten. Dieser Prozess hat bereits begonnen. Ein Großteil dessen, was als Reaktion auf die Pandemie in rasender Geschwindigkeit auf die Beine gestellt wurde, kann als Fundament für eine (…) grundlegende Erneuerung dienen. (…) Denn jetzt sind die Menschen daran interessierter, die unbestritten positiven Folgen des Shutdowns zu bewahren: weniger Fahrzeuge auf den Straßen, ein aktiveres Leben, stärkere Gemeinden, belastbare regionale Versorgungswege.“ (Tim Jackson, Fangen wir jetzt neu an!“ Die Zeit, Seite 20)

Das wäre die politische Position der Grünen und auch meine: Wohlstand nicht mehr an Zahlen zu bemessen, sondern am eigenen Leib zu spüren. Nicht mehr Rekorde feiern von Statistiken z.B. über die Neuzulassung von Autos und das Wachstum des Flugverkehrs, sondern sich freuen über weniger Autos, weniger Stau, weniger Lärm – mehr Raum für Menschen auf Rädern und zu Fuß. „Weniger ist mehr“ – mehr Wohlergehen, mehr Lebensqualität. „Weniger“ ist also kein Verlust, sondern ein Gewinn. Starke Gemeinden und ein starkes Interesse an Gemeindewohl sind dafür die Voraussetzung. Die Ideologie „Wachstum“ mit den tödlichen Folgen für die Umwelt wird aufgegeben und ersetzt durch ein Konzept der Zufriedenheit. Es gibt Grenzen und es gibt ein „genug“. Verzicht ist nichts per se Negatives, sondern ist als Bescheidung ein Gewinn.

In der Nacht zum Sonntag, da diese Überlegungen zur schriftlichen Form finden, erinnere ich gern daran, dass solch ein Denken in christlicher Tradition zu Hause ist. Gleich ist Gottesdienst. Das Aufstehen und Rausgehen dafür ist kein Verzicht, sondern ein Gewinn. Man wird es merken, wenn man‘s macht.  Gottesdienst ist heilsame Unterbrechung der Alltagsroutinen und Einladung zur Umkehr. So gesehen ist es kein Widerspruch, dass ich mich entschieden habe, meine christliche Grundüberzeugung politisch bei den Grünen zu verorten.

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