24. Juni – Zeitung lesen

24. Juni

Das Lesen der Zeitung ist für mich ein ganz unverzichtbarer Teil von Lebensqualität. Außerdem ist es die Basis für politische Bildung und Informiertheit, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Mit 15 oder 16 Jahren habe ich angefangen, täglich morgens vor der Schule beim Frühstück einen Blick in die Zeitung zu werfen, damals in den 1980er Jahren in Gütersloh. Die Zeitung damals war die „Neue Westfälische“. Zu Studienzeiten und in den verschiedenen WGs war dann die „Frankfurter Rundschau“ Pflichtlektüre.

Seit einiger Jahren lese ich täglich die Süddeutsche Zeitung und zusätzlich „Die Zeit“ und sonntags nach der Kirche die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Außerdem noch den Regionalteil der IVZ.

Aber vor allem aus den überregionalen Printmedien beziehe ich die Infos, die ich in meinem Tagebuch verwende. So komme ich auch an die Bücher, die ich hier zu Rate ziehe und aus denen ich zitiere. Sie werden in der Regel im Feuilleton vorgestellt, und wenn sie spannend erscheinen, lege ich sie mir zu. Schließlich gehört WDR 5 dazu, wenn ich morgens das Frühstück bereite.

Hier hörte ich auch von einem Professor Dr. Walter Eichendorff, der Präsident des Verkehrssicherheitstages ist. Er erzählte letzte Woche, dass in den 50er Jahren die Konzeption von Straßen und der Straßenbau „von der Mitte aus“ gedacht wurde. Also: Wie viel Platz brauchen PKW und LKW? Daraus ergibt sich die Breite der Straße. Was dann an den Seiten noch übrig bleibt, wird den anderen Verkehrsteilnehmern zugeschlagen: Fußgängern und Radfahrern.

Er plädierte nun dafür, umgekehrt zu denken, also von den Rändern her in die Mitte.  Wenn es also eine Trasse gibt, dann soll man außen den Raum abnehmen, den Fußgänger brauchen, auch mit Rollatur und Rollstuhl. Daneben muß eine hinreichend breite Spur für Radfahrer vorgesehen und kenntlich gemacht werden. Was dann noch übrig bleibt, müßten sich PKWs und LKWs teilen. Nur so könne die Sicherheit der schwächsten Verkehrsteilnehmer*innen gewährleistet werden.

Ich finde das eine nachvollziehbare und vernünftige Idee. Für die Osnabrücker Straße würde das bedeuten, dass zu den Gärten und Grundstücken hin ein Fußgängerweg entstehen müßte, der mindestens 120 cm breit ist. Damit Radfahrer nicht zu nah an den Füßgängern einerseits und den Autos und LKWs andererseits fahren, ist auch ein 120 cm breiter Radweg wichtig. Den Rest der Straße könnten sich dann motorisierte Fahrzeuge teilen, die auf der schmaleren Straße sinnvollerweise nur mit Tempo 30 unterwegs sein sollten.

Natürlich ist mir klar, dass die CoWi-LKWs weiter durch Westerkappeln rollen, wenn man sie nicht weiträumig umleiten wollte und viele Kilometer mehr in Kauf nehmen müßte, was der Umwelt schadete. Und man kann gewiß auch überlegen, ob man nur eine Straßenseite für einen Fußweg und die andere Seite für den Radverkehr vorsieht, wobei der Radweg dann wegen Begegnungsverkehr deutlich breiter sein müßte als die 120 cm. Das alles aber wäre zu beraten, wenn in Westerkappeln die Menschen, die nicht mit dem Auto unterwegs sind, wirksam geschützt werden können und sicher sind sein sollen.

In der Süddeutsche Zeitung las ich am Wochenende einen Beitrag über „Flüssige Freude“, mit dem ich heute schließen möchte, Alex Rühle (SZ Nr. 140 vom 20./21. Juni 2020 S. 17) erinnert sich an die 70er Jahre, als wir zur Schule gingen: „Im Schulranzen ‚Capri-Sonne‘ und ‚Sunkist‘ und jeden Tag die Hoffnung auf hitzefrei. Der einzige Sinn der Sommerferien bestand darin, sich in den Stau zu stellen, um irgendwo in Südeuropa einen Platz in der ersten Reihe der Schönwetterfront zu ergattern.“

Und: „Regen war ausschließlich negativ konnotiert, ein meterologisches Synonym für Spielverderber. So wie Hausaufgaben und Zahnarztbesuch oder später dann die Steuererklärung.“

Und dann bemerkt er, dass sich inzwischen etwas Grundlegendes geändert hat. Wir freuen uns inzwischen über den Regen. Wie war das schön, als letzte Woche in der Nacht lang anhaltender, sanfter Regen einsetzte und es über mehrere Stunden, gar Tage regnete. Ich erinnere mich an ein Kinderlied: „Es regnet, Gott segnet, die Erde wird naß“. Wir wissen jetzt, was Segen sehr konkret bedeutet: Die Erde wird befeuchtet. Das Leben der Pflanzen kann gedeihen. Dann auch Tiere und wir Menschen. Die Neubewertung des Regens, so schreibt Rühle, „ist erst einmal nur die Rückseite der Angst vor der kommenden Hitze. Seit 1881 hat sich die mittlere Temperaturin Deutschland um 1,5 Grad erhöht. Allein in den vergangenen fünf Jahren stieg sie um 0,3 Grad“.

„Bauern und Südeuropäer haben es natürlich immer gewußt: Regen ist so wunder- wie kostbar. Grundbedingung für alles andere. Oder wie John Updike schrieb: ‚Regen ist Gnade. Regen ist der Himmel, der zur Erde hinabsteigt…‘ (…) Bis zur Industrialisierung fürchtete man sich nicht vor verregneten Tagen, sondern nur vor deren Gegenteil. Trockenheit hieß Mißernte, und das hieß fast immer Hunger.“

Wir können uns das in Deutschland heute kaum noch vorstellen. Mit Ausnahme der Landwirte. Die konnte man 2018 oder 2019 und auch im Frühjahr 2020 zuweilen in den Nachrichtensendungen sehen, wie sie ratlos und verzweifelt auf ihren Äckern standen und den Staub in die Hand nahmen, zerbröselnde harte Erdklumpen, auf dem die Pflanzen nicht gediehen – viel zu trocken. Das sind die sehr sichtbaren Formen der Klimakrise, die unsere Jahre seit 5 Jahren zunehmend kennzeichnet.

Für den normalen Menschenverstand schwer zu verstehen: Auch der Regen in Gestalt des Starkregens ist eine Folge davon. Der „ist eine Folge der Hitze: jedes Grad Erwärmung führt zu 6 Prozent mehr Feuchtigkeit in der Luft – es wird also immer häufiger und heftiger regnen.“ Das muß man im Kopf erst mal zusammen kriegen: extreme Hitze und Trockenheit sind Symptome der Klimakrise ebenso wie der starke Regen, konzentriert an einzelnen Orte. Dazu ein Boden, der so ausgetrocknet ist, dass er den Regen nicht aufnehmen kann. Das Wort „Verwüstung“ nimmt sehr konkrete Formen an. Der Prozeß aber geschieht so schleichend und über Jahre hin, dass wir es nicht so genau sehen. Im Laufe der Zeit merken wir nur: es verändert sich was und es wird lebensbedrohlich. Nur langsam. Das war das Besondere an Corona: Da wurde die Lebensbedrohung innerhalb von Wochen alltäglich. Und es wurde gehandelt, sofort, schnell und unfaßbar konsequent. Bei der Klimakrise ist das anders. Die Lebensbedrohung wächst langsam und im Verborgenen über Jahrzehnte.

Rühle schließt seine „Ode an den Regen“ mit dem Hinweis, dass der Regen „eine Art Hintergrundgeräusch der Menschheitsgeschichte bildet. Er war lange vor uns da – die ältesten Spuren von Regen wurden in südafrikanischem Tuffstein gefunden, sie fielen vor 2,7 Milliarden Jahren. Und er wird auch lange, lange nach uns weitermachen. Er wird dann erst noch sauer sein, wegen allem, was wir ihm beigemengt haben an Gift- und Schadstoffen. Aber was bedeutet das schon in erdgeschichtlichen Maßstäben, da muß es ja nur mal ein paar Hunderttausend Jahre durchschauern, schon ist die Erde wieder gereinigt. Schade nur (..), dass das dann keiner mehr sehen wird in all seiner regenglitzernden Pracht.“

Was hat das mit Politik in Westerkappeln zu tun? Einmal macht es Menschen wie mich traurig, dieser Schluß, so richtig er ist. Denn er tröstet sich mit der Erdgeschichte, wobei die Menschheitsgeschichte als zu Ende gehend gedacht wird. Die Erde, vom Menschen gereinigt, so kann sie leben…

So wahr das wohl sein mag, so zynisch ist es auch. Mir jedenfalls geht es nicht nur um „die Erde“, „die Natur“ und „die Umwelt“. Mir geht es in erster Linie um den Menschen, den ich liebe – dezidiert übrigens tatsächlich und wörtlich um Gottes willen. Ich möchte, dass Menschen leben und überleben. Für ein „schönes“ und erfülltes Leben trete ich in meinem Glauben und wegen meines Glaubens ein. Der christliche Glaube an den Schöpfer und Erlöser des Lebens ist das Hintergrundgeräusch meines Denkens und Handelns. Und darum ist Politik wichtig. Wir müssen uns Zusammenhänge bewußt machen und das Leben womöglich an einigen Stellen radikal ändern, damit es schön bleibt. – Um mir das klar zu machen, deshalb lese ich über die Bibel hinaus die Zeitung. Und deshalb erfreut mich ein Artikel wie der über „Flüssige Freude“ von Alex Rühle, auch wenn er so traurig endet.

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