12. Juni

Zu den beglückendsten Aspekten des Lebens als Pastor gehört die Auseinandersetzung mit Texten, biblischen und anderen. Bei der Predigtvorbereitung für den kommenden Sonntag stieß ich auf einen Beitrag, der an Roger Willemsens „Zukunftsrede“ unter dem Titel „Wer wir waren“ erinnert. Unsere Gegenwart wird darin aus der Perspektive der Vergangenheit betrachtet. „Und damit verliert die Gegenwart sofort ihre Alternativlosigkeit. Der spielerische Blick aus der Zukunft befragt unsere Gegenwart als ihre Vergangenheit mit einer gewissen Verwunderung, warum sie denn genau so war und nicht anders.“
Mir fällt dazu der Titel eines Buches von Harald Welzer ein, das ich auch öfter zitieren werde in den kommenden Wochen. „Alles könnte anders sein“. Aber zuerst noch mal zur Diagnose. Johannes M. Modeß schreibt: „Unsere Gegenwart war – aus der Sicht der Zukunft betrachtet – eine Zeit des Zuviel. Wir waren die, die zu viel hatten, zu viel parallel machten, denen alles zu viel wurde.“

Dazu Welzer: “Der modernen Gesellschaft insgesamt scheint die Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist. Sie hat keinen Wunschhorizont mehr, sondern ihre Zukunft offenbar schon hinter sich. Keine Zukunft zu haben ist kein Zustand, der gute Laune macht. Und genau deshalb ist unsere Gegenwart vor allem durch schlechte Laune gekennzeichnet“ (16).

Ich habe manchmal den Eindruck, die Unzufriedenheit vieler Menschen speist sich aus dem Gefühl, in Zukunft könne alles nur schlimmer werden. Viele haben Angst vor der Zukunft, bei den Krisensymptomen, die wir erahnen, nicht ganz zu unrecht. Und trotzdem ist Angst kein guter Ratgeber, wenn es darum geht, eine Zukunft haben zu wollen und sie lebenswert gestalten zu wollen.

„Nur Zeiten, die vieles zu wünschen übrig lassen, sind auch stark im Visionären. Diese unsrige Zeit ist es nicht, deshalb befindet sie sich auch eher im Stillstand und wird einstweilen weniger imaginiert als vielmehr organisiert und kontrolliert.“ (Willemsen, S.32)

Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass wir wieder eine Vision brauchen: eine Vorstellung davon, wie wir anders und besser leben können. Es könnte zum Beispiel besser sein, im Harz zu wandern als an den Stränden der Türkei oder Ägyptens zwei Wochen „all inclusive“ sich der Sonne auszusetzen. Dann würden wir weniger fliegen und CO2 verbrauchen und bekämen einen Eindruck von der Schönheit unseres eigenen Landes, das wir durch unser „Zuviel von allem“ zu zerstören im Begriff sind. „Weniger“ kann wahrhaftig besser sein und zukunftsweisender. Wir müssen davor keine Angst haben.

Ein letztes für heute: Bei Zygmunt Baumann fand ich einen spannenden Gedanken. „Der Traum, dass man der Unsicherheit etwas von ihrem Schrecken nehmen und dem Glück Dauer verleihen kann (…) ist die Utopie der Jäger.“ (156) Wir Menschen sind unbemerkt alle zu Jägern geworden. Der Jäger ist übrigens das Gegenbild zum Gärtner, der uns am Anfang der Biebl begegnet. Der Garten Eden ist ja auch ein Ort, der utopisch ist, aber es ist eben eine ganz andere Utopie, die da ausgemalt wird.   

Jedoch: „Wenn man einmal damit angefangen hat, wird das Jagen zu einem Zwang, zu einer Sucht, einer Obzession, (…) hat man doch festgestellt, dass die Hoffnungen, die mit der Jagd einhergehen, das Schönste (das einzig Schöne) an der Sache war. Wird der Hase erlegt, so kann man das Ende dieser Hoffnungen erahnen – es sei denn, man plant für den folgenden Tag eine weitere Jagdpartie.“ (157)

Dieser Umstand macht es uns so schwer, auszusteigen und umzusteuern in unserem Lebensstil. Wir sind besessen. Wir wollen mehr und mehr. Schon Stillstand wäre furchtbar. Dass es nicht immer der Hase sein muß -unvorstellbar.

In gewissen Hinsicht ist unsere Jagd als Lebensmotto das Ende der Utopien „insofern, als die Utopien der Moderne einen Punkt anvisierten, an dem die Zeit zum Stillstand kommen würde, ja an dem die Zeit als Geschichte aufhören würde zu existieren.“ (157) Klassisch ist das christlich in der Idee des Reiches Gottes ausgedrückt, nach dem zu trachten nach Jesu Worten unser erster Auftrag ist. Jesus will sozusagen die Utopie retten und uns davor bewahren, uns im Jagdmodus zu verlieren. „Im Leben eines Jägers jedoch gibt es einen solchen Punkt nicht, an dem man sagen könnte, dass die Aufgabe erledig, der Fall geklärt, die Mission erfüllt wäre – so das man sich jetzt ‚glücklich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage‘ auf den Rest des Lebens freuen könnte.“ (157/8) – Anders ausgedrückt: Im Modus des Jagens und im Stand des Jägers gibt es kein Glück und keine Zufriedenheit.

Allerdings: „Wenn das ständige und fortgesetzte Jagen eine neue Form der Utopie ist, so ist sie – im Gegensatz zu den Utopien der Vergangenheit – eine Utopie ohne Ende. (…) Die Anziehungskraft der ursprünglichen Utopien beruhte auf ihren Versprechen, allen Mühen ein Ende zu bereiten; die Utopie der Jäger ist der Traum vom Mühen ohne Ende.“ (158)

Womit ich wieder am Anfang wäre. Das überfordert uns. Es überfordert uns in jeder Hinsicht. Ein Mensch, der immer weiter (jagen) muß, wird sich erschöpfen und zerstören. Mühen ohne Ende hat einen (hohen) Preis. Das gilt auch für das Große und Ganze: die Erde geht darüber zu grunde. Der Erd-Erschöpfungstag rückt jedes Jahr weiter nach vorn. Wir jagen so dahin, als gäbe es zwei Erden. Aber „Fridays for future“ hat uns daran erinnert: There ist no planet B. Es gibt keine zweite Erde. Wir müssen die eine bewahren. Dazu hat Politik ihren Beitrag zu leisten, nach meiner Überzeugung auch die Kommunalpolitik.

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