24. August 2020

Bernd Ulrich ist ein bemerkenswerter Text über die Generation der Babybomer gelungen, zu denen ich auch noch gehöre, am äußersten Rand dieser Generation, der letzte Jahrgang. „Kämpft ihr noch? In Die ZEIT Nr. 35, 20. August 2020, S. 2)

Gemeint sind die Jahrgänge 1955 bis 1965. Ulrich, mitten drin, geboren 1960, spricht vom „Drama einer Generation“, weil „eines der wichtigsten Lebensziele – den Kindern eine bessere Welt zu hinterlassen – möglicherweise nicht mehr aufgeht“.

Am Anfang des Dramas „stand der Neid. Auf die 1968er, die immerhin eine Revolte veranstaltet hatten“. Die Babyboomer dagegen waren „zu jung für 68, zu alt für die Digitalisierung“. Die Jahrgänge 1955 bis 1965 sind mit 10 Millionen Menschen in Deutschland „ein soziologisches, ökonomisches, kulturelles und politisches“ Schwergewicht. Wir waren irgendwie immer zu viele und standen uns „in den überfüllten Klassen und Hörsälen gegenseitig im Weg. Doch als es dann in den Job ging, die Parteizentralen und Funkhäuser, die Lehrerzimmer und Werbeagenturen, da verwandelte sich Überfüllung (…) in Machtfülle“.

Deshalb beschäftigt sich Ulrich mit sich selbst und seiner Generation, weil diese Machtfülle noch 10 Jahre andauern wird: „ein Jahrzehnt, in dem sich mehr Zukunft entscheiden dürfte, als einem lieb sein kann. Der Westen, das Wachstum, die ökologische Tragfähigkeit der Erde und vielleicht sogar der liberale Rechtsstaat stehen auf dem Spiel. (…) Stand heute, sieht es nicht sonderlich gut aus in der Beziehung zwischen den Boomern und der Zukunft. Die Generation, die sich von vornherein der Revolution versagte, kommt nun mit den Revolutionen, die (…) gerade stattfinden, kaum zurecht.“

Der ZEIZT-Autor meint, dass „die letzte originär politische Generation des 20. Jahrhunderts“ mit „der ersten politischen Generation des 21. Jahrhunderts“ – dafür stehen Namen wie Luisa Neubauer und Rezo – deutlich Probleme hat. Da wird für unsren Post-68er-Geschmack „zu viel belehrt und ermahnt“ in Sachen Klima und Umwelt. „Und doch bedeutet jeder klimapolitisch verlorene Monat für die Boomer wenig, für die Jungen aber dereinst ein Jahr mehr ökologischen Notstand.“

Das ist das Problem meiner Generation: Wir, die Vielen und ökonomisch und finanziell Starken, rauben unseren Kindern ihre Zukunft, die Lebenschancen der kommenden Jahrzehnte. Wir werden dann sterben, aber unsere Kinder müssen dann (über)leben, unter deutlich erschwerten klimatischen und dann auch sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen.

Machen wir also „kurz vor der Rente doch noch ein bißchen Revolution? Eine Revolution, die übrigens nicht deshalb kommt, weil irgendjemand sie so dringend gewollt hätte (…), sondern weil die Probleme von den Boomern zu lange aufgeschoben wurden.“

Wir sind also nicht „Macher“ und „Subjekte“ der kommenden Revolution, sondern ihre Zeugen; die Opfer aber sind unsere Kinder.

Was ist damit gemeint? Unsere starke Generation verbraucht die ökologischen Grundlagen der Erde im wahrsten Sinne des Wortes: wir „verheizen“ sie, „verfahren“ und „verfliegen“ und „verzehren“ sie. Wir verbrennen die fossilen Brennstoffe in Kraftwerken und Motoren. Wir fliegen in aller Herren Länder und verpesten die Luft. Wir essen viel zu viel billiges Fleisch. Manche von uns empören sich dann über Massentierhaltung. Wir wollten anders leben und leben tatsächlich verkehrt.

Den großen, ja katastrophalen ökologischen Fußabdruck – hinterlassen wir, die wir uns für die Umwelt stark mach(t)en und für die Dritte Welt einsetzten. Ich finde mich in alledem wieder.

Ulrich schreibt: „Die Schwierigkeiten mit der Zukunft erklären sich aus den Erfolgen der Vergangenheit. Denn die Boomer mußten sich gegen die Kriegsgeneration und gegen die 68er zugleich durchsetzen.“ Die meisten von uns sympathisierten mit den 68ern, „erkannten jedoch zugleich auch deren Schwächen: das Ideologische, das Missionarische, all die Zeigefinger, mit denen sie einem vor dem Gesicht herumfuchtelten.

Gift und Gegengift – infolgedessen verschrieben sich die Boomer dem Projekt Entgiftung. Sie lernten die Ideologien der anderen noch, aber nicht um sie zu benutzen, sondern um sie zu entkräften.“ (…) Zu laut, zu emotional, zu heftig, zu überzeugt, all das galt den Boomern als verdächtig. Moderieren, statt agitieren, das war die logische Form, die zum Entgiftungsprogramm paßte.“

Immerhin waren „die Babyboomer für ein Thema besonders sensibel, das quer stand zu den Großideologien des 20. Jahrhunderts: die Ökologie.“ Mit Angela Merkel bekam und wählte diese Generation dann das erste Mal eine Frau an die Spitze des Staates, die „das Moderieren zur Staatskunst erhob“ und damit der ideale Ausdruck des Selbstbewußtseins dieser Generation war: pragmatisch, klug, wissenschaftlich gebildet, nüchtern – und gelegentlich radikal, wie beim Ausstieg aus der Atomkraft oder im menschlichen Erbarmen (humanitär) begründeten Entscheidungen des Jahres 2015, die dann die AfD erstarken ließen.

„Das Bündnis zwischen Boomern und Kanzlerin umfasste (allerdings) eine geheime Nebenabrede, die lautete: hohe Moral bei solider Rendite, grünes Bewußtsein, kombiniert mit historisch einzigartigem, gigantischen ökologischen Fußabdruck, insgesamt also viel Wert für wenig Zumutung.“

Genau diese Zeiten neigen sich dem Ende zu.

Ich breche hier ab mit dem Panorama dieser Generation, zu der ich auch gehöre, am äußersten Rand.

Die Revolution, die wir nicht mehr machen, sondern die wir erleben, erfordert ein klares und radikales politisches Handeln, biblisch gesprochen eine Umkehr. Das ist mir im Kopf schon lange klar, aber mir fehlte bisher die Kraft, die Erkenntnis in Politik umzusetzen, abgesehen vom Privaten und dem persönlichen Lebensstil.

Letzte Woche fragte mich ein Gemeindeglied in Büren, warum ich als Bürgermeister in Westerkappeln kandidiere. Es hängt damit zusammen, dass ich überzeugt davon bin, dass wir eine Umkehr einleiten müssen, und zwar bald. Diese Umkehr muß politisch und persönlich erfolgen, sie muß Ökologie und Ökonomie ins rechte Verhältnis setzen. Dabei hat im Zweifelsfall die Ökologie Vorrang vor der Ökonomie, weil in einer verdorrten Welt und erhitzen Erde nicht mehr viel wachsen kann: auch nicht die Ökonomie.

Von daher sind wir Grüne in Westerkappeln durchaus radikal: Wir sind nicht „gegen die Interessen der Wirtschaft“. Aber die Forderung z.B. nach neuen Gewerbegebieten und weiterem Wachstum sind keine Optionen mehr für eine lebenswerte Zukunft der jungen Generation.

Doch noch mal Bernd Ulrich: „Wir waren dazu bestimmt, das System zu reformieren und zu stabilisieren, eine Systemkrise stand nicht auf dem Programm. Doch da sie nun stattfindet, helfen sich die Boomer, indem sie es sich schwermachen. Und so kosten sie der Republik äußerst Wertvolles: Zeit.“

Genau da möchte ich aus den Gewohnheiten meiner Generation aussteigen. Ich finde die Diagnose richtig, dass wir gerade eine „Systemkrise“ erleben: es ist eine Grundlagenkrise des globalen Kapitalismus. Ein „weiter so“ kostet uns – gemeint ist der Menschheit – die Zukunft.

Die Strategie, uns bei heißen Themen und apokalyptischen Zukunftsszenarien herunterzukühlen und zu beruhigen, geht so: „Man sagt ihnen, die Zeit rennt, und wir antworten: ‚Bitte nicht so ungeduldig, der Club of Rome hat doch damals auch schon so einen Stress gemacht und wir leben immer noch – den Rest regeln die deutschen Ingenieure.‘

Aber es hat sich etwas verändert, meint Ulrich. Der „Zeitdruck ist keine Frage des Temperaments, sondern eine der Physik, der Biologie und der Virologie. Aprospos Virologie. Die Corona-Krise hat dem Allmächtigskeitsparadigma der Boomer den Rest gegeben, mit einem Mal war klar: ‚Schritt für Schritt‘ ist nicht das Betriebsgeheimnis der Demokratie, es war bloß die bevorzugte Form in einer Zeit maßvoller Krisen“.

Die Krisen aber haben ihr Maß verloren. Sie werden künftig an vielen Stellen aufbrechen, weil in der Ökologie alles miteinander zusammenhängt. Und wir wissen nicht, wie wir dann diese Krisen noch kontrollieren können, geschweige denn zu bewältigen in der Lage sind. Das ist ein Horrorszenario, das die Vielen gern verdrängen.

„Die unausgesprochene goldene Diskursregel der Boomer lautete: Solange wir nicht extrem reden, kann uns nichts Extremes passieren. Das ist rational, solange die größten Gefahren von ideologischen Verirrungen ausgehen. Wenn die Gefahren aber aus der Normalität erwachsen, wenn sie materieller Natur sind und sich stellenweise exponentiell entwickeln, dann handelt es sich bei diesem Motto nur noch um magisches Denken.“

Bernd Ulrich verweist zum Schluß auf den kürzlich von mir zitierten Soziologen Armin Nassehi („Muster“), auch Jahrgang 1960, also mitten drim im Boomer-Geschehen. Ulrich nennt ihn den pronounciertesten „Vertreter dieser Denkungsart. Er profiliert sich als eine Art Welt-Geist des Weiter-so, vergleicht die Bewegung Fridays for future mit extremen Gruppierungen, weil sie das System infrage stelle. In Wirklichkeit tut sie das aber gar nicht, das Infragestellen erledigt das System schon selbst.

Entsprechend resignativ kommt Nassehis Einstellung zur Ökologie daher: ‚Eigentlich kann sich demokratische Politik gar nicht auf ökologische Gefahren einstellen, weil diejenigen, deren Verhalten sich ändern soll, wählen.‘“

Das bedeutet in der Konsequenz: Eine Umkehr in Lebensstil und Politik ist ausgeschlossen, da die stärkste Wählergruppe, die ihr Verhalten ändern müßte, kaum einer Politik ihre Stimme gibt, die solch eine Verhaltensänderung will und politisch verfolgt. In der Konsequenz hieße das: ein grüner Bürgermeisterkandidat und grüne Politik in Westerkappeln sind chancenlos.

Das wäre bitter und tatsächlich dramatisch. Deshalb glaube ich das auch nicht so recht und gebe die Wahl in Westerkappeln  nicht verloren, bevor die Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgegeben haben.

Tatsächlich bekomme ich sehr viel Zustimmung und positive Resonanz: „Ich wähle Sie!“ sagen mir viele aus der Generation der Boomer und aus der ersten des 21. Jahrhunderts, der Friday-for-future Generation. In drei Wochen sind wir schlauer – es ist der Montag nach dem 13.9.

„Die Boomer, die immer ganz gut ohne Drama ausgekommen sind, stehen jetzt wirklich vor einem, ihrem eigenen. Noch könne sie war draus machen, vielleicht würde es sogar Freude bereiten…“

Darauf setze ich! Anders zu leben anfangen bedeutet: besser zu leben, bewußter, intensiver, gesünder, freier, nachhaltiger – einfach schöner. Ein schöner Ort in einer schönen Landschaft mit gutem Gefühl und guten Aussichten für unsere Kinder und Enkel – das wäre meine Vision für unser Land und unseren Ort, in dem ich gerne lebe. Deshalb setze ich micht für seine Zukunft ein. Aber eben nicht unter dem Motto „weiter so“. Das unterscheidet mich als Herausforderer von der amtierenden Bürgermeisterin.

Nachher werde ich bei der Versammlung der Grünen eine Idee einbringen. Wenn sie auf Zustimmung stößt, werde ich demnächst davon berichten.

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