3. Juli 2020 – noch mal: Tönnies und die Folgen

Corona wirke wie ein Brennglas, heißt es immer wieder. Dieses Virus mache die Mißstände offenbar, z. B. in der Fleischindustrie und in der Landwirtschaft, die sie beliefert. „Der Fall Tönnies wirft nichts weniger als die Systemfrage in der Tierhaltung auf“ schreibt Silvia Liebrich in der Süddeutschen Zeitung vom heute im „Thema des Tages“ (SZ Nr. 151 vom 3. Juli 2020, S.2)

Kaum ein anderer Bereich in der Landwirtschaft (ist) so effizient durchorganisiert wie die Schweinefleischindustrie, angefangen bei der Zucht der Tiere bis zum Verkauf auf internationalen Märkten. Eine Effizienz, die Deutschland zum weltweit größte Exporteur von Schweinefleisch gemacht hat (..) Doch nun treten brutal deren Schattenseiten hervor. Sinnbild dafür ist der Tönnies-Schlachthof (..) Seine Schließung bringt die gesamte Lieferkette ins Stocken.“

„Lieferketten“, das ist ein Signalwort der Coronakrise. „Lieferketten“ und ihre Anfälligkeiten in einem globalisierten System werden deutlich, und zwar bis hin zum Schweinemastbetrieb in Westerkappeln. Wir lernen, dass es eine „Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN)“ gibt, eine Lobbyorganisation innerhalb der Agrarindustrie. Die 10 größten Schlachthofbetreiber „verarbeiten gut 80 Prozent der Schweine. (…) Und sie alle haben ihre wichtigsten Standorte in einer Region: Der Schweinegürtel reicht von Nordrhein-Westfalen bis nach Niedersachsen. Nirgends werden so viele Schweine gehalten wie hier. Das hat Folgen: Die Hinterlassenschaften der Tiere verunreinigen das Grundwasser.“

Es gibt bei dieser Art der Massentierhaltung aber nicht nur katastrophale Nebenwirkungen für die Umwelt und die langfristigen Folgen für die Gesundheit der Menschen in diesen Regionen. Es gibt auch eine dramatische soziale Kehrseite für die Landwirte. Wenn, wie derzeit beraten, Schweine mehr Platz bekommen sollen und „der umstrittene Kastenstand, ein enger Käfig aus Metall, abgeschafft wird, hätte das für die Halter „weitreichende Folgen: (…) In der Folge dürften hierzulande weniger Schweine in de Ställen stehen (…) Ein Schreckensszenario für viele Tierhalter, die schon in de vergangenen Jahren viel Geld in Ställe investiert haben und nun nachlegen müßten.“ Was das konkret heißt, erzählte mir diese Tage jemand: In der letzte  Wochen hätten sich gleich zwei Landwirte in der Region das Leben genommen. Dieses „Schweine-System“, und damit meine ich nicht nur die Massentierhaltung, sondern das ganze wirtschaftliche Treiben dahinter, erzeugt so einen Druck, dass viele damit nicht mehr leben können, nicht im übertragenen Sinne, sondern bitter existentiell.  Ich frage mich, ob wir wirklich immer so weitermachen wollen… – und wie viele Opfer dieses System noch bringen soll.

„Für ein Kilo Schweinefleisch (erhalten Landwirte derzeit) 1,60 Euro, im März waren es noch 2 Euro. (…) Die Preise verfallen auch, weil die Nachfrage relativ gering ist (und) der Exportmarkt China wegen Corona weggefallen ist (…) Wer die ganze Dramatik verstehen will, muß einen Blick in die Vergangenheit werfen. Bundesweit gibt es heute noch 22900 Betriebe, die Schweine halten. Bei 26,9 Millionen Schweinen kommen damit auf jeden Halter im Schnitt 1175 Schweine. Zum Vergleich: 1950 gab es noch 2,4 Millionen Schweinebauern, von denen jeder im Schnitt 5 Schweine hielt.“ Nun kann man die Situation 5 Jahre nach de Krieg nicht so einfach vergleichen mit den Zeiten 70 Jahre später. Aber „besonders drastisch sank die Zahl der Schweinebauern von 2007 bis 2013, in diesem Zeitraum gaben 65 Prozent der Erzeuger auf.“

„Erzeuger“, ein furchtbar lebloses, technisches Wort. Dahinter stehen Menschen, die wirtschaftlich unter Druck stehen. Und auch sozial und existentiell. Diese Dramatik muß man sich klar machen, wenn man über die Landwirtschaft klagt und schimpft. Ich klage und schimpfe über die Landwirtschaft genau deshalb, weil ich diese Tragik unerträglich finde, und deshalb der Meinung bin: Es muß hier zum Systemwechsel kommen. Wir bfrauchen eine andere Form von Landwirtschaft, Und natürlich auch aufgeklärte Verbraucher, die ihr Einkaufsverhalten ändern.

Weiter i deprimierenden Text. „Es gibt eine Stau am Schweinemarkt, weil die Schlachtkapazität von 100 000 Schweinen pro Woche fehlt“, für die Tönnies verantwortlich ist. Ein Vertreter der ISN wird zitiert, dass das ei  großes Problem sei. „Seiner Einschätzung nach muß derzeit die Schlachtung von bis zu 100 000 Schweinen hinausgezögert werden. Das bedeutet mehr Futterkosten, weniger Einnahmen. Und die nächsten Ferkel kommen bereits nach“. – Es ist halt eine Produktionskette. Wir reden hier aber von Tieren und von Menschen, die sie halten. „Deine Sprache verrät dich“ heißt es in der biblischen Passionsgeschichte….

Corona wirke wie ein Brennglas, und wie ein Beschleuniger. „Die Pandemie wird eine Wende auslösen, die Schlachthöfe, aber auch die Schweinehaltungsbetriebe betrifft‘ sagt Agarwissenschaftler Professor Alois Heißemhuber.“ – Hoffentlich!

Hoffentlich wird sie aber auch eine Wende in de Köpfen der Menschen, nun auch der Verbraucher, auslosen, so dass sie denken: So kann es nicht weitergehen! Unsere Lebensmittel sind wortwörtlich Mittel zum Leben. Menschen sorgen dafür, dass wir sie haben und bekommen. Ich würde ja immer noch behaupten, dass auch Gott dafür sorgt: „Er sendet Tau und Regen, und Sonn und Mondenschein, und wickelt seinen Segen gar zart und künstlich ein“ (Lied 508, Wir pflügen und wir streuen“).

Wir Menschen haben dieses segensreiche System in einen Fluch verwandelt. Wird Zeit, dass wir umkehren und uns neu organisieren, in allen Bereichen: in der Landwirtschaft, im Handel, im Lebensstil jedes Einzelnen.

Vertreterinnen und Vertreter der Kirche sagen und predigen das übrigens schon lange. Manchmal hinter vorgehaltener Hand, weil sie den Landwirten nicht zu nahe treten wollen. Ich halte das für falsch. Nach allem, was wir heute in der Süddeutschen Zeitung lesen, ist das System ein echtes „Schweine-System“, das in seine tödlichen Folgen zum Himmel schreit. Das muß man dann auch aussprechen. Es hilft auch den Landwirten, die einmal stolz darauf waren, das Wichtgste zum Leben beizusteuern: die Lebensmittel. – Ich möchte, dass die Bauern wieder stolz sein können und für die Gesellschaft nachhaltig, für die Böden ökologisch und für sich selbst zufrieden und ohne existentiellen Druck wirtschaften können. Das wollen im übrigen die Grünen auch – entgegen anders lautenden Vorwürfen auch von seiten des Bauernverbandes. Manchmal sind die Bauern schlecht beraten und vertreten.

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