22. Juni 2020 22. Juni 202022. Juni 2020 1331 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind beim größten Fleischproduzenten Deutschlands mit Covid 19 infiziert, hauptsächlich aus Bulgarien und Rumänien. Das sind ca. 20 % der Belegschaft. Ich lese in der Süddeutschen Zeitung, dass sie auf ca. 1300 Liegenschaften im Kreis Gütersloh verteilt sind – eine davon steht in Verl Sürenheide. „Die schlafen im Drei-Schicht-Betrieb , mit bis zu 10 Mann in einer Drei-Zimmer-Wohnung“, sagt eine Frau aus der Nachbarschaft: „Diese Menschen werden in Zuständen gehalten wie die Schweine, die sie schlachten.“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 141 vom 22. Juni 2020, S.3) Ein Rumäne, der seit 20 Jahren in der Region lebt und der nach 10 Jahren sich aus dieser Form moderne Sklaverei mitten in Deutschland befreien konnte, erzählt: „1500 Schweine pro Stunde“ habe er geschlachtet im Akkord. „Sechs, sieben Euro habe er damals pro Stunde verdient. Immer wieder habe er sich für einen anderen Subunternehmer verdingt.“ In derselben Zeitung schreibt Elisabeth Doskert im Kommentar, dass der Leiter des Krisenstabes in Gütersloh das Wort „Dunkelfeld“ gewählt habe, das in der Kriminologie „die nicht amtlich bekannten Straftaten“ beschreibt. Ich nehme mal nicht an, dass im Rechtsstaat Deutschland hier tatsächlich Straftaten im Sinne des Gesetzes begangen worden sind, sonst wären sie verfolgt worden. „Klar ist aber, das ist ein dunkles Feld, auf das der westfälische Fleischer Clemens Tönnies seine Firma aufgebaut hat. Sein Erfolg beruht auf Ausbeutung.“ Allerdings wäre es heuchlerisch, mit dem Finger auf diesen Unternehmer zu zeigen, denn das „System Tönnies“ hat viele Faktoren, die es stützen. Die Kommentatorin schreibt: „Das System hat über Jahre hinweg weitgehend ungestört funktioniert, weil viele es mitgetragen haben. Bauern, die sich nicht wehren, Discounter, die Marktanteile mit Billigware erkämpfen, und Verbraucher, die glauben, sie hätten ein Recht auf billiges Fleisch. Eine intensive Beschäftigung mit der Frage, weshalb ein Schweineschnitzel weniger als sechs Euro kostet, und wer selbst daran noch etwas verdient, hätte jede Grillparty vermiest. Im System Fleischindustrie gibt es viele dunkle Felder. Es ist höchste Zeit, dass die ausgeleuchtet werde, bis in die letzten Winkel“. Ehrlicherweise muß man eingestehen, dass mit dem „System Fleischindustrie“ und seinen Dunkelfeldern das „System Agar-Industrie“ mit Massentierhaltung eng verflochten ist. Und mit der Massentierhaltung ist die „Vermaisung“ unserer ehemals vielfältigen Natur- und Kulturlandschaft verbunden. Und ebenso in Südamerika die Abholzung des Regenwaldes. Es nutzt nichts, sich über Tönnies zu empören. Wir Verbraucher und Bürgerinnen und Bürger haben um die Zustände gewußt und haben sie (erfolgreich) verdrängt. Die Gewerkschaften weisen seit Jahren auf die Zustände in der Fleischindustrie hin und sprechen von moderner Sklaverei. Wir als Verbraucher haben es gern überhört oder gehört und vergessen. Und wir verdrängen auch die Tatsache, dass die heimische Landwirtschaft über Abnehmer wie Tönnies und Westfleisch für den internationalen Marlt „produziert“. Noch einmal: 30 000 Schweine werden täglich allein bei Tönnies in Rheda gekeult. Eine oft gewählte Formulierung unserer Tage lautet, man müsse „sich ehrlich machen“. Tatsächlich glauben die Grünen das schon länger. Wenn wir uns „ehrlich machen“, dann kommt dabei heraus, dass wir so nicht weiter einkaufen und konsumieren können wie bisher. Lebensmittel müssen wieder wertvoll werden und ihr wahrer Wert muß sich im Preis ausdrücken. Und in diesem Preis dürfen nicht die ökologischen Kosten unterschlagen werden, die bei unserem Lebensstil anfallen: z.B. die Rodung des Regenwaldes in Brasilien, die die Lunge der Welt und des Weltklimas darstellt. In den letzten Jahrzehnten sind – parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung in Europa, bereits 20 % des Regenwaldes vernichtet worden. Die Lunge des Weltklimas ist arg bereits angeschlagen. Maja Göpel schreibt, was ihr auffiel, als sie „Vorlesungen der Volkswirtschaftslehre besuchte (…): Echte Menschen kamen in diesen Theorien genauso wenig vor wie echte Natur. Im Grunde drehte sich alles nur darum, dass Firmen mehr Gewinn anstrebten und Haushalte immer mehr kaufen wollen, also die Volkswirtschaften von Staaten immer mehr wachsen. Geld war in dieser Sichtweise der einzige Wert.“ (58) Wann das aber herrschende Lehre in der Wirtschaft ist, dass Menschen keinen Wert haben und dass die Natur keinen Wert hat, sondern nur „das Phantom Geld“, dann wundert es nicht, dass die Natur zugrunde geht und Menschen krank werden. Etwas süffisant weist Göpel darauf hin, das Ökonomen, die „menschliches Handeln einschätzen und woran sie bemessen, ob der Mensch vernünftig wirtschaftet oder nicht“ (…) auf Erkenntnisse dreier Männer zurück geht, die alle vor mehr als 200 Jahren geboren wurden“ (59). Die drei Männer sind Adam Smith, , David Ricardo und Charles Darwin. Göpel kritisiert, dass wichtige und richtige Teile ihrer Theorien herausgebrochen und absolut gesetzt wurden und so der sogenannte „homo oeconomicus“ konzipiert wurde, also der Mensch, der sich nach einem bestimmten (veralteten) Weltbild wirtschaftlich vernünftig verhält. So sieht er aus: Er „kennt keine qualitativen Unterschiede zwischen Ressourcen, keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, keine Kooperation, kein Mitgefühl, keine Verantwortung, weder auf der Ebene des Einzelnen noch auf jener der Gesellschaft“ (67). Das Problem ist: Das Menschenbild, das hinter diesem Konzept steht, schafft Wirklichkeit und erzeugt eine bestimmte Praxis. „Theorie macht Praxis“ (67) schreibt Maja Göpel und sagt damit: Das Bild, das theoretisch entworfen wurde, führt zu einer bestimmten Praxis, die die Theorie bestätigt. Dabei wird übersehen, dass eine womöglich falsche Theorie eine geradezu selbstmörderische Praxis hervorgebracht hat. In diesem Dilemma stecken wir heute. Göpel zitiert einen ehemaligen Anwalt der größten Unternehmen der Welt, James Gamble, der diese Logik so zusammenfaßt: „Durch die radikale Orientierung am Aktienwert seien die Manger*innen und Leiter*innen der Börsen rechtlich dazu verdonnert, sich wie Soziopathen zu verhalten. Das Verhältnis zu Angestellten und Kund*innen, zu den Regionen, in denen sie produzieren und in die sie verkaufen, sowie die Effekte ihrer Praktiken auf Umwelt und zukünftige Generationen finden da alle keinen wirklichen Platz.“ (67) Womit wir wieder beim „System Tönnies“ sind und einen katastrophalen Systemversagen, das aktuell in ihren tödlichen Konsequenzen sichtbar ist. Hier ist ein zuerst Umdenken angesagt und dann auch ein Umsteuern im Verhalten bei Einzelnen (Landwirten. Lebensmittelhändlern, Verbrauchern), in der Wissenschaft und in der gesamten Gesellschaft. Dafür werben wir Grüne. Schluß mit einem de facto selbstmörderischen Lebensstil! Suchen wir gemeinsam nach Perspektiven für umfassendes Wohlergehen von Menschen, Tieren und Pflanzenwelt. Dafür steht „grün“ und „die Grünen“. Dass das nicht unchristlich ist, sondern ziemlich christlich, muß ich doch noch nachschieben!