8. September 2020

Wir brauchen einander! Das wurde am Montag wieder sehr deutlich, als wir als Grüne zusammensaßen und Michael Twiehaus mich auf einen Artikel in der IVZ vom 4. September 2020 (Nr. 206, Sonderseite) aufmerksam machte, den ich im Stress der Vorbereitungen zur Eröffnung von Eden 2020 übersehen hatte.

Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie in Frankfurt und hielt dort in der Paulskirche am 2. September einen Vortrag über „die Verwahrlosung der Demokratie“ (Überschrift des Artikels). Er erinnert an Thomas Mann, der 1949 in eben dieser Kirche eine Rede hielt und der, bevor er ins Exil in die USA ging, im Jahre 1938 schrieb:

„Es gibt keinen Besitz, der Nachlässigkeit vertrüge. Selbst physische Dinge sterben ab, gehen ein, kommen abhanden, wenn man sich nicht um sie kümmert, wenn sie Blick und Hand des Besitzzers nicht mehr spüren und er sie aus den Augen verliert, weil ihr Besitz ihm allzu selbstverständlich dünkt.“ –

Forst schreibt weiter: „Das gelte auch für die Demokratie, die ‚kein gesichertes Gut‘ sei und daher ‚Selbstbesinnung‘, ‚Wiedererinnerung‘ und ‚Bewußtmachung‘ benötige.“

Vor dem Hintergrund der Corona-Proteste in Berlin am 29. August und der Kaperung des demokratisch essentiellen Demonstrationsrechtes durch (mutmaßlich wenige, aber laustarke und symbolkundige)  Reichsbürger und Rechtsextreme, die zum „Sturm auf den Reichstag“ aufriefen und damit historische Erinnerungen auslösten, nimmt Peter Forst sehr grundsätzlich Stellung.

„Eine extreme Vernachlässigung nennen wir Verwahrlosung. Die Verwahrlosung der Demokratie, über die ich sprechen will, ist etwas anderes als das Verkümmernlassen einer Pflanze. Sie ist eine Selbstvernachlässigung, denn Subjekt und Objekt davon sind wir selbst.“

Das ist deshalb ein schwieriger Gedanke, weil wir im Normalfall entweder Subjekt von Handlungen sind oder aber Objekt: das heißt, entweder wir tun etwas, dann sind wir Subjekte, oder wir erleiden etwas, dann sind wir Objekte.

Im Falle der Demokratie sind wir paradoxerweise beides: Wir sind die Subjekte der Demokratie, da wir als Bürgerinnen und Bürger Teil des Volkes und der Bevölkerung sind, die die eigene Herrschaft organisieren. Demokratie ist sozusagen eine Form bewußter Selbstbeherrschung.

Wenn wir diese Form der Selbstbeherrschung aber vernachlässigen, dann vernachlässigen wir das, was uns so wichtig geworden ist: dass nicht andere über uns herrschen, sondern wir (als Volk/Bevölkerung) über uns selbst bestimmen. Wenn wir diese Selbstherrschaft oder Selbstbestimmung preisgeben, dann werden andere Mächte und Kräfte über uns herrschen, die per se „undemokratisch“ sind. Deshalb kommt Forst zu dem Spitzensatz: Die Verwahrlosung der Demokratie ist eine Selbstvernachlässigung.

Diese Selbstvernachlässigung, die im Übrigen in der Selbstzerstörung endet, wenn nicht gegengesteuert wird, fängt gedanklich an und äußert sich zuerst in der Sprache: in der Verrohung von Sprache. Ein Mord geschieht zuerst als Gedanke, dann erfolgt er in Worten und wird schließlich zur Tat.

Klammer auf: Deswegen sagt Jesus, dass das gute Gebot „Du sollst nicht töten“ schon für die Gedanken über den Nächsten gilt: ihn oder sie soll man nicht gedanklich diffamieren, denn darin ist die Tötung vorgebildet. Und deshalb hat der Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, ein wichtiges Buch geschrieben unter dem Titel: „Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht.“ (Köln 2020)

Demokratie – so Forst – „ist nicht nur eine Staats-, sondern auch eine Lebensform. Sie ist zuallererst eine Denkform, denn sie erfordert eine bestimmte Haltung zu sich und anderen.“

Demokratie ist also nichts von außen auf und über uns Kommendes, sondern sie ist eine viel weiter reichende Angelegenheit, die Denken und Leben umfaßt. Wer die Demokratie nicht achtet, der achtet weder das Denken noch das Leben. Das macht die Gefahr der Vernachlässigung und Verachtung der Demokratie so brand- und lebensgefährlich!

Forst spricht von der Gefahr, dass die Demokratie „von innen“ und aus dem Inneren heraus umschlagen kann ins Autoritäre, wenn z.B. der Slogan „Wir sind das Volk“ gegen andere: die „Regierenden“, „die Politik“, die „Fremden“ und andere mehr in Stellung gebracht wird.

„Mit ‚Verwahrlosung der Demokratie meine ich Prozesse des Verkommenlassens, die von innen stammen, die von einem falschen, aber verbreiteten Demokratieverständnis herrühren und dabei blind machen für den Übergang der Demokratie ins Autoritäre, also für eine Verkehrung. Solche immenente Verwahrlosung zeigt sich daran, dass die Begriffe verrutschen – und es etwas die Möglichkeit ‚illiberaler Demokratie‘ geben soll“. –

Forst erinnert an Thomas Mann, der solche Verkehrung durch „gestohlene Worte“ erkannte. Deswegen müssen wir auf Sprache achten. Worte dürfen nicht hohl und leer werden, sie dürfen nicht verdreht und gestohlen und mißbraucht werden. Worte wie „Volk“ oder „Heimat“ sind große Worte, für die es große Sensibilität und großer Verantwortung bedarf, damit sie ihre Größe nicht verlieren.

Habeck erinnert in seinem Buch ebenfalls an etwas Grundsätzliches, wenn er daran erinnert: „In der Politik ist Sprache das eigentliche Handeln. Ganz buchstäblich. Indem Eide geschworen oder Verfassungen und Gesetze beschlossen werden, tritt eine neue Wirklichkeit in Kraft.“ (S.17)

Rainer Forst wird im Weiteren sehr grundsätzlich und kommentiert damit die Vorkommnisse in Berlin.

Ich verlasse hier mal die Spur des politischen Theoretikers, die ich Michael Twiehaus verdanke und wiederhole: Wir brauchen einander. Wir dürfen aufeinander achten und uns auf wichtige Dinge hinweisen.

In der Kommunalpolitik sind die wichtigen Fragen weniger grundsätzlich, aber nicht weniger wichtig. Die Frage, wie wir leben können und wollen, stellt sich im persönlichen Lebensumfeld zuerst. Und hier ist Kommunalpolitik wichtig.

Wir als Grüne wünschen uns eine hohe Wahlbeteiligung, vor allem auch bei jungen Menschen. Denn wer zur Wahl geht, übt das fundamentale Recht auf Selbstbestimmung aus. Wenn man selbst mit bestimmt, wer einen „regiert“, dann ist aus dem Objekt der Demokratie ein Subjekt geworden. Und wenn ich dann mit „der Regierung“ nicht zufrieden bin, dann engagiere ich mich in einer politischen Partei, die mir nahe steht und mit der und in der ich den für (mich) richtig erkannten Weg mitgehen und mitbestimmen kann.

So bin ich zu den Grünen gekommen, und so bin ich sogar zur Kandidatur gekommen: für das höchste Amt in der Kommunalpolitik. Ich finde den Satz fundamental, den die IVZ am 7. September in ihrem Artikel „Zukunft mutig, nachhaltig und ökologisch gestalten“ zitiert:

„Die Coronakrise ist eine Grundlagenkrise. Sie zeigt uns in grausamer Weise die Grenzen und Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft auf. Ihre Bewältigung wird Jahre in Anspruch nehmen, Zeit, die wir nicht zweimal haben, um den notwendigen Transformationsprozeß anzugehen. Die weitaus größte Herausforderung unserer Zeit wird jedoch nicht die Bewältigung der Pandemie, sondern der Umgang mit der Klimaveränderung und deren Folgen sein.“

Deshalb meine Bitte an alle Wählerinnen und Wähler in Westerkappeln: Gehen Sie zur Wahl! Machen Sie von Ihrem Wahlrecht Gebrauch! Stärken wir die Demokratie. Wenn Sie die Grünen wählen, freuen wir uns, wenn Sie mich wählen, freue ich mich. – Wenn sie andere wählen, freuen die sich. Aber so oder so: Sie können sich und anderen eine Freude machen, wenn Sie die Wahl nutzen – zur Selbstbestimmung in einer Demokratie.

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